2007. október 30., kedd

23 - Neue Züricher Zeitung: Ungarns Rechtsextreme marschieren wieder - Krawalle am Jahrestag der antikommunistischen Revolution 1956

24. Oktober 2007, Neue Zürcher Zeitung

Ungarns Rechtsextreme marschieren wieder

Krawalle am Jahrestag der antikommunistischen Revolution 1956

Der Chef der oppositionellen Fidesz, Orban, während seiner Ansprache in Budapest (Bild: Reuters)
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In Budapest ist es am Dienstag, dem 51. Jahrestag der antikommunistischen Revolution von 1956, wie schon an den Tagen zuvor zu gewalttätigen Demonstrationen Rechtsextremer gekommen. Diese lehnen die Regierung von Ministerpräsident Gyurcsany als illegitim ab.


U. Sd. Prag, 23. Oktober

In der ungarischen Hauptstadt haben am Dienstag Hunderte von Rechtsextremen gegen die regierenden Sozialisten demonstriert und den sofortigen Rücktritt von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany verlangt. Die Kundgebung war lebhaft und laut, aber nicht gewalttätig wie die Demonstration vom Vortag, bei der laut Polizeiangaben mindestens 19 Personen verletzt, Autos umgestürzt und Molotowcocktails geworfen wurden. Auch bei einer Kundgebung der Oppositionspartei Fidesz, die am späteren Nachmittag stattfand, blieb es in Budapest ruhig, wozu wohl nicht unmassgeblich ein eiskalter Dauerregen beitrug. Im Jahr 2006, anlässlich der 50-Jahr-Feiern zum heldenhaften Aufstand der Ungarn gegen die sowjetische Besatzungsmacht, war es zu schweren Ausschreitungen und Gewaltexzessen gekommen, wobei sich auch die Polizei böse Miss- und Übergriffe gestattete.

«Illegitimer Regierungschef»

Die Rechtsextremen feiern den Jahrestag des Ungarnaufstandes mit besonderer Hingabe, weil sie sich, wie am Dienstag die Veteranin Maria Wittner sagte, als die wahren und legitimen Erben von 1956 betrachten und der Meinung sind, Gyurcsany und seine Sozialisten, die «Erben der Diktatur», hätten sie 1989 um jenen Systemwechsel betrogen, der nötig gewesen wäre, um ein demokratisches und gesundes Ungarn zu schaffen. Dieser Ansicht sind grundsätzlich auch die Jungdemokraten (Fidesz) des ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Doch sie vermeiden es in der Regel, von einem Systemwechsel zu sprechen – nicht zuletzt deshalb, weil sie ja selber in diesem neuen Staat von 1998 bis 2002 an der Macht waren. Allerdings bezeichnen auch die Jungdemokraten Gyurcsany als einen illegitimen Regierungschef, der sich 2006 nur mit Lug und Betrug an der Macht habe halten können. Im letzten Sommer hatte eine Tonbandaufzeichnung den Weg in die Medien gefunden, auf der zu hören war, wie Gyurcsany vor Parteigenossen zugab, er und seine Mitarbeiter hätten «am Morgen, am Mittag und am Abend nur gelogen».

In seiner Rede vom Dienstag kündigte Orban an, jene, die für die Gewaltanwendung gegen friedliche Demonstranten im letzten Jahr verantwortlich seien, würden bei seiner Rückkehr an die Macht bestraft. Ob er damit nur die zuständigen Polizeibeamten oder auch die befehlegebenden Politiker meinte, liess er offen. Der Polizeieinsatz im vergangenen Jahr hat in Ungarn zu epischen Diskussionen geführt, und zahlreiche Politiker, unter ihnen an führender Stelle Präsident Laszlo Solyom, sind der Ansicht, die Polizei habe damals gegen das Gesetz verstossen. In einer Ansprache zum 51. Jahrestag des Ungarnaufstandes erinnerte Solyom am Wochenende daran, dass die Schuldigen der Exzesse noch immer nicht bestraft seien und dass die Verletzung der Rechtsordnung durch Ordnungshüter besonders verwerflich sei. Augenzeugen wie der Berichterstatter sahen am 23. Oktober 2006 allerdings primär wilde, hasserfüllte Aggression seitens der Demonstranten.

Unter den Demonstranten, die am Montag Krawall machten, fielen Beobachtern zahlreiche Personen auf, die sich am Wochenende die Vereidigung weiterer Mitglieder der sogenannten Ungarischen Garde angesehen hatten. Die Garde war in diesem Sommer vom Chef der rechtsextremen Partei Jobbik, Gabor Vona, ins Leben gerufen worden; sie will Würde und Ehre Ungarns gegen dessen Feinde verteidigen. An einer zugelassenen Demonstration der «Ungarischen Selbstverteidigungs-Bewegung» am Montag traten neben national gesinnten Rockbands wie «Romantische Gewalt» und «Gesunde Kopfhaut» auch Vona sowie etliche Helden der Schlacht von 2006 auf und forderten die Teilnehmer offen zum Gesetzesbruch auf.

Die Menge marschierte danach zur Staatsoper, wo eben der Ex-Kommunist Gyurcsany der sozialistischen Hautevolee seine Gedanken zum Jahrestag der antikommunistischen Revolution von 1956 kundtat. Die Polizei stellte sich der Menge in den Weg, worauf es zu den erwähnten Ausschreitungen kam. Drei Fotografen – sie arbeiten für die Zeitungen «Nepszabadsag» und «Nepszava» sowie für Reuters – mussten in Spitalpflege verbracht werden.

Ein gespaltenes Land

Wie sehr Ungarn – und nicht etwa Polen, wo es derartige Krawalle und ähnliche Exzesse schlicht nicht gibt – ein gespaltenes Land ist, lässt sich an den Bemerkungen Vonas ablesen, der nicht nur der Regierung Gyurcsany Gefängnisstrafen androhte, sondern auch die Gründung eigener Institutionen wie etwa einer Krankenversicherung ankündigte. In Kürze sollen laut dem Jobbik-Chef «Volkshochschulen» gegründet werden, an denen strebsame Gardisten die «Wahrheit über Ungarns Geschichte und Kultur» erlernen könnten. Darüber, weshalb die Garde am Wochenende nicht wie im September angekündigt 2000 Mitglieder, sondern nur deren 500 vereidigte, liess sich Vona nicht weiter aus. Für Gyurcsany ist das verbale und physische Wüten der Rechtsextremen natürlich eine enorme Hilfe. Es erlaubt ihm, die gesamte Rechte pauschal als «verantwortungslos» abzuqualifizieren – auch die in der Regel besonnenen bürgerlichen Massen, die an den Anlässen des Fidesz teilnehmen.