2008. november 1., szombat

1.210 - Schatten über Budapest: Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 02.11.2008

Schatten über BudapestDer Staat ist pleite, die Regierung könnte kommende Woche am Streit über den Haushalt zerbrechen. Die Rechtspopulisten sind in Ungarn stark – schlägt jetzt die Stunde der Radikalen? Eine Stimmungsbericht aus der Hauptstadt.XVon Sugárka Sielaff
2.11.2008 0:00 Uhr artikeldetail_div_entscheider(); Herr Lakatos hält den Telefonhörer mit beiden Händen fest, er drückt sein dunkles Gesicht an die Muschel. Ein Gesicht, dem das Leben auf der Straße seinen Stempel aufgedrückt hat und das sich weigert, Gefühle ungefiltert an die Oberfläche dringen zu lassen. Da ist nur seine Stimme: „Nur ein bisschen etwas zu essen. Gott segne Sie, Gott segne Sie." Sie fleht, sie bettelt, ein Singsang der Erniedrigung.
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Herr Lakatos ist obdachlos, und er ist ein Rom. Von seinen 100 Euro Sozialhilfe im Monat kann man in Ungarn nicht überleben. Also sitzt er in der Rechtsberatung des Romaparlaments, der Dachorganisation aller zivilen Romaorganisationen, im achten Bezirk von Budapest und klammert sich an den Telefonhörer. Gegen Monatsende ruft er von hier immer seine Bekannten an und versucht, sich etwas zu essen zu organisieren.
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Draußen sieht Ungarns Hauptstadt aus, als wäre der Zweite Weltkrieg gerade erst vorbei. Endlos ziehen sich die Reihen der grauen Gründerzeithäuser, die Zeit hat an ihrem Stuck genagt und die Farben verblassen lassen. Aufgeplatzter Asphalt, kein Grün. Hin und wieder weit geöffnete Türen kleiner Läden mit ihrem immer gleichen Angebot an Getränken, Zigaretten und Kaugummis. Alte Männer mit Plastiktüten unterhalten sich mit alkoholrauer Stimme. Romafrauen in neongelben Westen fegen die Gehwege. Vergeblich, gegen das Grau, den allgegenwärtigen Staub können sie nichts ausrichten.
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Auf diesen Straßen lebt Herr Lakatos. Von dort ist er durch das reich verzierte, sterbende Treppenhaus ins Romaparlament hinaufgestiegen. Er ist auf Andis Tisch zugelaufen. Andi hat sich nach vorn gebeugt, ihm direkt in die Augen gesehen und gelächelt: „Sie haben sich die Haare geschnitten." Sie ist eine von drei Mitarbeiterinnen des Rechtsschutzbüros. In Lakatos' Gesicht hat es kurz gekämpft. Freundlichkeit macht ihn verlegen.
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Andi betreut Menschen wie Herrn Lakatos. Menschen, die in extremer Armut leben, die sich im Netz aus Ämtern und Antragsfristen verfangen haben. Und immer öfter kümmert sie sich um Fälle von Diskriminierung. Stellen, für die sich Roma bewerben, sind plötzlich besetzt. Wohnungen, in die Roma einziehen wollen, sind plötzlich nicht mehr frei.
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In letzter Zeit häufen sich auch die Anrufe aus Dörfern: Rechtsradikale paramilitärische Gruppierungen veranstalten dort Kundgebungen, oftmals eingeladen vom Bürgermeister. Angst macht sich breit, Romafamilien verlassen fluchtartig ihre Dörfer und übernachten bei Verwandten.
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70 bis 80 Prozent der Ungarn, so der parlamentarische Ombudsmann für Minderheiten, haben Roma gegenüber eine Einstellung, für die das Wort negativ eine höfliche Umschreibung ist. Der wachsende Hass auf die Minderheiten in Ungarn, äußerte er unlängst, könne mit der Stimmung in den 30er Jahren in Deutschland verglichen werden.
XAntisemitismus, Homophobie und Antiziganismus sind bis weit in die Kreise konservativer Intelligenz hinein salonfähig geworden. Man spürt in der ungarischen Hauptstadt, dass etwas in Schieflage geraten ist. Zwar spiegelt sich Budapest nachts immer noch majestätisch glitzernd in der Donau, und dann meint man, es zu hören: das leise Geklapper des Geschirrs in den Caféhäusern der 20er Jahre, in denen sich Weltbürger, Schriftsteller und Intellektuelle trafen. Im Morgengrauen aber werden die blätternden Fassaden sichtbar, die Löcher in den Straßen. Alte Frauen, die, mit der Sorgfalt schamhafter Armut gekleidet, in den Unterführungen kleine Sträuße aus Gartenblumen verkaufen.
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Mitte vergangener Woche kündigten IWF, EU und die Weltbank ein milliardenschweres Hilfspaket für Ungarn an, um das Land vor dem Staatsbankrott zu retten. Die wirtschaftliche Lage des Landes ist schon seit langem desolat: Bereits im Sommer 2006 wurde Ungarn ein Haushaltsdefizit von zehn Prozent prognostiziert, das höchste in Europa. Um die Haushaltslage zu sanieren, drückt die Regierung der Sozialistischen Partei zurzeit ein Paket aus Sparmaßnahmen durch, das der Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány mit dem in der Stadt sprichwörtlich gewordenen Satz „Es wird nicht wehtun" ankündigte. Doch es tut weh: Bereits im September 2006 stiegen der Gaspreis um durchschnittlich 30 Prozent, der Strompreis um 10 bis 14 Prozent. Krankenversicherungsbeiträge, Einkommensteuer und Mehrwertsteuer erhöhten sich ebenfalls.
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Ende April verließ der kleine Koalitionspartner, der Bund der freien Demokraten, die Koalition. Nun ist die Regierung bei jeder Abstimmung auf Stimmen aus der Opposition angewiesen. Wenn der Haushalt für 2009, der kommende Woche im Parlament verabschiedet werden soll, keine Mehrheit bekommt, könnte es zu Neuwahlen kommen.
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Ungarn ist ein tief gespaltenes Land, und das zeigt sich gerade in der Hauptstadt. Im Herbst 2006 katapultierten spektakuläre Bilder von brennenden Autos und Straßenschlachten Budapest in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Auslöser der Demonstrationen war eine parteiinterne Rede des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, die den Medien zugespielt wurde. Mit den Worten „Wir haben es verschissen" gestand er ein, die Wähler über die Haushaltslage belogen zu haben.
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Zehntausende Anhänger der nationalkonservativen Oppositionspartei Fidesz gingen daraufhin auf die Straße. Rechtsradikale Skinheads und Fußballhooligans stürmten das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, mehrere Polizisten wurden schwer verletzt. Es kam aber auch zu willkürlichen Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten, die nie aufgeklärt wurden. Budapest ist seitdem Aufmarschplatz der Opposition und rechtsextremer Gruppierungen, die personell und ideologisch durchaus Schnittmengen haben.
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Auf den Demonstrationen steht eine Frau immer ganz vorne. Nicht weit von den maskierten Männern, die im Hirtenkostüm, die Lederpeitsche in der Hand, das ungarische Brauchtum verteidigen. „Haben sie Angst?", ruft sie dann mit schneidender Stimme und meint damit die linksliberalen Bürger des Landes. „Endlich! Zittern sie? Endlich!"
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Die Frau heißt Krisztina Morvai. Sie trägt einen Doktortitel, ist Dozentin für Strafrecht an der berühmten Budapester Eötvös-Loránd-Universität, bekannt geworden ist sie als Feministin, als Menschenrechtlerin, als UN-Mitarbeiterin. Sie bewirbt sich um einen Sitz im Europaparlament für die rechtsradikale Partei „Jobbik", was sowohl „die Besseren" als auch „die Rechteren" heißt.
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Gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden Gábor Vóna ist sie nach Székesfehérvár gekommen, einer kleinen Stadt vor den Toren Budapests. Der Saal im Technikhaus strahlt im sozialistischen Schick. „Was wissen wir über den Zigeuner?", fragt Gabor Vóna und lässt die Augen in seinem unbewegten Gesicht durch den überfüllten Saal gleiten. „Mag er die Ungarn? Will er arbeiten? Will er sich anpassen?" Der Geschichtslehrer ist auch einer der Gründer der Ungarischen Garde, einer paramilitärischen Organisation, die die Ungarn vor der „Zigeunerkriminalität" beschützen und die ungarische Kultur pflegen will. Die schwarz uniformierte Garde marschiert unter einer weiß-rot gestreiften Fahne. Der Fahne, die ungarische Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg bei den Massenerschießungen ungarischer Juden an der Donau hochhielten.
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Im August 2007 gab es die erste Großvereidigung der Garde, in der Burg auf dem Berg von Buda, hoch über der Stadt. Am 25. Oktober, der letzten Großvereidigung, liefen auf dem geschichtsträchtigen Heldenplatz in Budapest auch Kinder als „Kadetten" im Gleichschritt. Die Garde hat nach eigenen Angaben 2000 aktive und 10 000 unterstützende Mitglieder. In letzter Zeit kam es an ihrer Spitze jedoch zu Machtkämpfen.
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Der Geheimdienst, ruft Gabor Vóna in den Saal, habe versucht, die Bewegung zu zersetzen. Anschließend geht er zu allgemeinen Erläuterungen über: „Die Zigeunerkriminalität verbittert das Leben von Millionen. Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird Blut fließen!" Gelänge es „Jobbik", die Euroskeptiker in der ungarischen Bevölkerung zu mobilisieren, so könnte die Partei bei den Parlamentswahlen die Fünf-Prozent-Hürde überspringen, prognostiziert das Meinungsforschungsinstitut Szonda Ipsos.
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Während Gabor Vorna redet, sitzt Krisztina Morvai neben ihm und lächelt. Im Europaparlament wolle sie dafür sorgen, dass die Interessen der Ungarn nicht länger mit Füßen getreten würden, erklärt die Autorin des Buches „Unsere Art" später. Ihr Mann ist einer der bekanntesten ungarischen Fernsehjournalisten und jüdischer Abstammung. Er hat sich von ihren politischen Aktivitäten in einer Pressemitteilung seines Senders distanziert.
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Die Extremität ihrer Wandlung und die Schizophrenie der Lebensumstände von Krisztina Morvai wären wenig interessant, spiegelten sie nicht die gesellschaftliche Spaltung Ungarns. Wie die Donau Buda und Pest voneinander trennt, so geht der politische Riss durch Familien, Freundschaften und das kulturelle Leben. Er lässt nichts unberührt. Welche Zeitung gelesen, welche Musik gehört wird, alles wird zum Politikum, in einer polarisierten Welt, die keine Grautöne mehr zur Kenntnis nehmen will.
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Mitunter führt das zu solch tragikomischen Geschichten, wie sie Judith Horváth erzählt. Die zierliche Frau ist Programmkoordinatorin des jüdischen Theaters und Cafés „Sirály". Im alten jüdischen Viertel von Budapest mit seinen Hinterhöfen und kleinen Gassen ist das Sirály so etwas wie das Wohnzimmer der Künstler, Flaneure und Intellektuellen. Die Gäste sind jung, sie tragen Jeans, viel Schwarz und halten in der Hand meistens eine Zigarette.
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Judith Horváth zündet sich eine an. „Bisher", sagt sie, „hatte ich versucht, zu der Situation in Budapest mit den ständigen Demonstrationen Abstand zu halten." Seit dem 27. September ist das anders. Am Abend wurde ein Theaterstück aufgeführt, eine groteske Posse namens „Gecy, eine jüdische Pornokomödie". Nach der Vorstellung tauchten plötzlich Rechtsradikale auf, vor dem Café bespritzten sie Mitwirkende des Stücks mit Fäkalien und Säure.
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Auf rechtsradikalen Internetseiten war seit Wochen zur Gewalt gegen die Macher des Stücks aufgerufen worden, der Hauptdarsteller war deswegen schon ausgestiegen und musste ersetzt werden.
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Die Pornokomödie, so die Rechtsradikalen, verunglimpfe das ungarische Nationaldrama „Die Tragödie des Menschen". Ein Großteil der Fäkalien, erinnert sich Judith, landete auf den Pflastersteinen vor dem Café: Weil ein Maskierter den Eimer mit den Fäkalien in der linken Hand schwenkte, während er in der rechten eine Ausgabe der „Tragödie des Menschen" hielt. „Unser Stück ist ein Witz, es hat nichts mit der ,Tragödie des Menschen' zu tun" sagt Judith Horváth. Das Sirály hatte Polizeischutz angefordert. Doch die Ordnungshüter kamen erst, als die Maskierten längst auf und davon waren.
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Im Norden wird das jüdische Viertel von dem Andrássy út begrenzt, der Prachtstraße, die zum Heldenplatz führt. Hier entlang führte im Sommer die Route des Christopher Street Day, eigentlich eine fröhliche Parade, die in Budapest aber zum Spießrutenlauf geriet. Schimpfende Bürger und Rechtsradikale, die Eier und Steine warfen, säumten die Straßen.
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Für die Aggressionen gegen Homosexuelle gäbe es mehrere Erklärungen, sagt Dr. Joszef Kárpáti. Kárpáti sitzt im Empfangszimmer des Rechtsschutzbüros für nationale und ethnische Minderheiten, die Regale hinter ihm sind mit englischer Fachliteratur und einer Whiskyflasche bestückt. Er ist Direktor des Rechtsschutzbüros, früher hat er lange als Anwalt einer Lobbyorganisation für Homosexuelle gearbeitet.
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Zum einen, sagt er, seien die Homosexuellen mit Musterprozessen gegen ihre Diskriminierung vorgegangen, „damit sind sie für die Öffentlichkeit überhaupt erst sichtbar geworden". Und das löse immer eine Gegenreaktion aus. „Außerdem führt die politisch angespannte Situation zu einer immer radikaleren Rhetorik, auf Kosten der Minderheiten." Der Staat lasse sich auf eine verheerende Kumpanei mit den Randalierern ein, weil er nicht entschlossen genug gegen sie vorgehe. Die von der Polizei festgenommenen Eierwerfer seien reihenweise freigesprochen worden. „Ich selber bin von Anfang bis Ende mitgelaufen", sagt er. „Wenn jemand mit Eiern schmeißt, gefällt mir das nicht. Aber als die großen Steine flogen: Das war beängstigend."
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Die „Jobbik"-Kandidatin Krisztina Morvai kennt Kárpáti von früher, als sie sich noch für die Rechte der Homosexuellen engagierte. Die Zeiten, lacht er ironisch, würden sich eben verändern.
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Nach ihrem Auftritt hatte sich vor Krisztina Morvais Tisch im Technikhaus eine Schlange gebildet, sie signierte ihr Buch „Unsere Art", bewacht von schwarz gekleideten Männern in Springerstiefeln. Auf dem gewaltigen Brustkorb des einen prangten die Umrisse von Großungarn. Am nächsten Tag stand sie wieder im Hörsaal und bildete Juristen aus.
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Auch die Juristinnen vom Romaparlament haben bei Krisztina Morvai Strafrecht gehört, lang ist das noch nicht her. „Komisch", sagt eine, „mir kam sie ziemlich normal vor." Dann schiebt sie die Papierstapel auf ihrem Tisch zur Seite und wendet sich der rundlichen alten Frau zu, die auf ihren Tisch zukommt. „Frau Molnár, wie geht es Ihnen?", fragt sie, sieht ihr direkt in die Augen und lächelt.
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(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 02.11.2008) ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------