2009. március 29., vasárnap

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Wie Ungarn erst den Wohlstand aus der Schweiz importierte - und dann die Krise

Von Florian Hassel In Budapest 29. März 2009, 01:52 Uhr

Als Ungarns Wirtschaft boomte, verschuldeten sich Regierung, Unternehmen und Privatleute wegen der hohen Inflation im eigenen Land meist in ausländischen Währungen - am liebsten in Schweizer Franken. Jetzt droht das Firmen und Familien gleichermaßen in den Ruin zu treiben

Wolfgang Bartesch wirkt nicht wie ein Mann, der mit dem Rücken zur Wand steht. In Barteschs Autovermietung in Ungarns Hauptstadt Budapest rufen an diesem Märztag wie sonst auch die Kunden an, die einen Wagen reservieren wollen. Bartesch wirkt jungenhaft mit seinen 48 Jahren, seine widerspenstigen blonden Locken kräuseln sich in alle Himmelsrichtungen. Er genießt die Mittagspause auf dem Dach des Firmensitzes. Nach vorn blickt Bartesch auf die sonnenüberströmte Donau. Rechts sieht er den Firmenparkplatz mit Dutzenden gepflegter Mietwagen. "Es ist paradox", sagt Bartesch. "Ich habe ein florierendes Unternehmen. Aber auf dem Papier bin ich eigentlich bankrott."

Der finanzielle Mühlstein, der an seinem Hals hängt, sind Kredite in Schweizer Franken. Die können in Ungarn nicht nur Wolfgang Bartesch das Genick brechen. Hunderttausende Firmen und Familien nahmen vor Beginn der Krise Kredite in Franken, Euro oder Yen auf, um hohen Zinsen in der eigenen Währung, dem Forint, zu entgehen. In der Krise können viele ihre Kredite nicht mehr bedienen - eine finanzielle Zeitbombe für das ganze Land. "65 Prozent aller Kredite laufen in Ungarn in ausländischen Devisen", sagt Gabór Oblath von Ungarns Nationalbank. "Viele Großunternehmen sind gegen Devisenrisiken abgesichert - aber nicht kleine Unternehmen und Privathaushalte."

Dass ihm einmal Schulden über den Kopf wachsen könnten, hätte sich Wolfgang Bartesch früher ebenso wenig träumen lassen wie eine Unternehmerkarriere. Schuld ist der ungarische Film. Ende der 80er-Jahre brauchten die Budapester Filmstudios Westautos für die Dreharbeiten. Die waren Mangelware im damals noch kommunistischen Ungarn. Acht gewitzte Ungarn erinnerten sich ihres deutschen Kumpanen Bartesch. Der studierte einst gegen harte D-Mark Medizin in Budapest.

Die Ungarn fragten den in Berlin lebenden Bartesch, ob er WestAutos beschaffen und in Budapest den Filmstudios vermieten wolle. Bartesch, der mit der Medizin fremdelte, wollte. Der Einsatz: 7000 Mark, seine Ersparnisse. Dafür kaufte der damals 27-Jährige zwei alte Volvo-Limousinen und brachte sie nach Budapest.

Auch nachdem der Kommunismus zusammenbrochen war, bedeutete Pionierarbeit als Autovermieter zunächst viel Arbeit bei wenig Gewinn. Bald verkauften alle ungarischen Partner Bartesch ihre Firmenanteile. Der wählte den Fuchs zum Namensgeber seiner Autovermietung. "Es waren sportliche Jahre - in den 90er-Jahren wurden mir mehr als 100 Autos gestohlen", sagt Bartesch.

In Budapest kaufte er an der Donau einen baufälligen Backsteinbau als Hauptquartier, einst Sitz einer großen Brauerei. Mit über 600 Fahrzeugen machte Bartesch sein Unternehmen zur größten privaten Autovermietung Ungarns. Wie jedes große Unternehmen dieser Branche arbeitet auch Bartesch mit Leasingkrediten. Er kauft seine Wagen auf Kredit, nach einem halben Jahr kauft sie der Händler zurück. Alles wäre in schönster Ordnung, wenn da nicht die Sache mit den Schweizer Franken wäre.

Ungarns Regierung gab vor allem nach dem Wahlsieg der Sozialisten 2002 viel mehr Geld aus, als sie einnahm. Sie verdoppelte die Löhne aller Staatsdiener und erhöhte die Renten kräftig. Die folgende Inflation bekämpfte Ungarns Nationalbank mit hohen Zinsen. Kredite in Forint kosteten so leicht mehr als zehn Prozent Zinsen im Jahr. Die Banken boten einen scheinbar leichten Ausweg: Kredite in harten Währungen, vor allem Schweizer Franken. Denn in der Schweiz waren die Zinsen niedrig. Auch Unternehmer Bartesch nahm seine Kredite in Franken auf - und zahlte auf diese Weise nur drei bis vier Prozent Zinsen pro Jahr.

Das ging so lange gut, wie Ungarns Währung stabil blieb. Doch als im Herbst 2008 die Wirtschaftskrise Fahrt aufnahm, verkauften risikoscheu gewordene Investoren ungarische Anleihen und Aktien. Schnell sank der Kurs des Forint gegenüber Euro und Franken um ein Fünftel. Die Regierung entging dem Staatsbankrott nur mit Notkrediten von IWF und EU.

Barteschs Kunden freilich zahlen ebenso weiter mit dem im Wert gesunkenen Forint wie die Autohändler, die Barteschs Wagen zurückkaufen. Für den Unternehmer wurde die Rückzahlung der Franken-Kredite so mit einem Schlag zwanzig Prozent teurer. Allein die im Januar 2009 fällige Rückzahlung der Kredite für 23 Mercedes-Limousinen, die er im Juli 2008 leaste, bedeutete für Bartesch einen Verlust von 6000 Euro pro Fahrzeug.

Dazu kamen im Herbst 2008 fällige Kredite für weitere mehr als 130 Autos. "Der Einbruch des Forint bedeutete für mich bei der Bedienung der Kredite einen Währungsverlust von 1,2 Millionen Euro", sagt Bartesch. Das Geld hatte der Unternehmer nicht. Er konnte seine Kredite nicht mehr bedienen. Und jetzt? "Die Banken haben jedes Recht, meinen Laden dichtzumachen."

Noch verhandelt Bartesch mit seinen fünf Hausbanken - und tritt die Flucht nach vorn an. Seit Weihnachten wirbt er verstärkt mit günstigen Tarifen um Firmenkunden. Anfang des Jahres ist sein Umsatz leicht gestiegen. Auch zahlreiche Buchungen von Touristen stimmen Bartesch optimistisch. "Wenn die Banken mir das Licht abdrehen, bekommen sie knapp 500 Autos. Die können sie in der Krise nur mit hohem Verlust verkaufen. Oder sie verlängern die Kredite und setzen darauf, dass ich die Schulden allmählich abtrage", sagt Bartesch. "Bei uns kommt ja weiterhin Geld rein. Verglichen mit mir gibt es in Ungarn noch unzählige wackeligere Bankrottkandidaten."

Der wohl größte Sprengsatz für Ungarns Wirtschaft und Politik sind Privatkredite. Ungeübt im Umgang mit Banken und begierig, den Traum vom eigenen Haus, Auto oder Flachbildschirm zu verwirklichen, nahmen von den zehn Millionen Ungarn mehrere Millionen einen oder gleich mehrere Kredite auf. Die konnten sich viele schon vor dem Absturz des Forint eigentlich nicht leisten. Und jetzt erst recht nicht mehr.

"Es gab sehr viele Warnsignale - leider hat sie kaum jemand beachtet", sagt Gabrielle Nagy vom Justizministerium. Die Nationalbank warnte bereits 2004 vergeblich vor der Überschuldung vieler Haushalte. "Schon im Frühjahr 2008 standen über 600 000 Ungarn auf einer schwarzen Liste der Banken, weil sie mit Kreditzahlungen mehr als drei Monate im Rückstand oder ganz säumig waren."

Seit Jahren versucht das Justizministerium, den in anderen Ländern längst möglichen Privatkonkurs einzuführen. "Bisher scheiterten wir, weil die Banken dagegen waren und die Politik uns nicht unterstützte." Selbst wenn ein neuer Entwurf Gesetz wird, träte dieses nicht vor Anfang 2011 in Kraft. "Für die Opfer der aktuellen Krise bringt das Projekt nichts", sagt Nagy. Dabei ist die Zahl der auf der schwarzen Liste notierten säumigen Kreditkunden seit Beginn der Krise auf über eine Million Ungarn hochgeschnellt: "Zehntausende Familien könnten in Gefahr kommen, ihr Heim zu verlieren."

Zum Beispiel die Familie Vadasz. Kräftige Schultern und Oberarme belegen, dass Lászlo Vadasz harte Arbeit gewöhnt ist. Seit über 30 Jahren arbeitet er als Klempner, seit dem Ende des Kommunismus ist er selbstständig. Anfang 2007 verkaufte Vadasz sein Haus in einem Außenbezirk von Budapest, damit die zwei erwachsenen Kinder sich eigene Wohnungen kaufen konnten. Da er selbst schon 61 Jahre ist, nahm Vadasz auf den Namen seiner Tochter einen Kredit mit 35 Jahren Laufzeit über 120 000 Schweizer Franken auf. Mit dem Geld kaufte er für sich, Frau Erszebet und den schwerbehinderten Sohn Attila eine Doppelhaushälfte.

Vadasz' Darstellung zufolge informierten weder zwei ungarische Banken noch die österreichische Raiffeisenbank, von der die Familie schließlich den Kredit bekam, darüber, welches Risiko ein Kredit in fremder Währung birgt. Und niemand, so der Handwerker, habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Kreditraten nach den ersten sechs Monaten drastisch erhöhen würden. Die Raiffeisenbank bestritt auf Anfrage der "Welt am Sonntag" mangelnde Aufklärung: Informationen über Währungsrisiken wie Ratensteigerungen seien fester Bestandteil eines jedes Kreditvertrages mit der Bank.

Die Realität sei anders, sagt Mariann Lénárd von der er-sten Schuldnerberatung Ungarns. "Lockvogelkredite, bei denen die Raten steil ansteigen, doch nur die niedrigen Raten der ersten Monate prominent im Vertrag auftauchen, sind bei allen in Ungarn arbeitenden Banken üblich - auch bei Raiffeisen. Hunderte Kreditopfer berichten uns, dass sie von den Bankberatern nicht über Risiken aufgeklärt wurden." Doch hätte Handwerker Vadasz den Kredit abgelehnt, wenn er mehr über die Risiken gewusst hätte? Er glaubt nicht. "Ich arbeitete seit 23 Jahren erfolgreich als Unternehmer. Warum sollte ich keinen Kredit aufnehmen? Niemand von uns dachte, dass in der Wirtschaft die Welt einstürzen würde." Doch eineinhalb Jahre nach dem Einzug der Vadaszs ins neue Haus kam Ungarns Bauindustrie im September 2008 zum nahezu kompletten Stillstand.

Vor allem für Großbaustellen, auf denen Vadasz' arbeitete, gaben die Banken keine Kredite mehr. "Ich bekam über Nacht keine Aufträge mehr - und kann seitdem den Kredit nicht mehr bedienen", sagt er. Alte Unternehmerfreunde, die Vadasz um eine Anstellung bat, konnten nicht helfen: "Sie haben selbst keine Aufträge und stehen vor dem Ruin."

Das Angebot des Handwerkers, mit Gelegenheitsarbeiten geringere Kreditraten zu bezahlen, bis die Krise vorbei ist, lehnte die Raiffeisenbank nach seiner Darstellung ab. Anfang März teilte die Bank seiner Familie mit, dass ihr Haus zwangsversteigert werden soll. Seit seiner Geburt vor 31 Jahren pflegen die Eheleute Vadasz ihren geistig behinderten, ans Bett gebundenen Sohn Attila. Jetzt ist Attila ihre einzige Hoffnung, ihr Zuhause doch noch behalten zu können. "Vielleicht schrecken die Bank und die Justiz letztlich davor zurück, eine Familie mit einem schwerbehinderten Kind auf die Straße zu setzen", sagt der Vater. Die Raiffeisenbank wollte Details zum Fall Vadasz mit Verweis auf das Bankgeheimnis nicht kommentieren.

Anders als in Deutschland, wo viele Unternehmen noch mit Kurzarbeit Entlassungen vermeiden, sind in Ungarn seit Beginn der Krise allein bis Januar 75 000 Menschen entlassen worden: Das ist keine Kleinigkeit bei nur 2,7 Millionen Beschäftigten, von denen über 700 000 Staatsdiener sind. Seit Januar geht die Entlassungsserie weiter. Die Liste der Entlassungen von Großunternehmen, die der ungarische Internetdienst index.hu registriert, liest sich wie ein Who's who der stark von westlichen Investoren geprägten Wirtschaft: 250 Entlassungen bei Robert Bosch, 200 beim Baukonzern Strabag, 400 bei Philips, 500 Entlassungen bei US-Elektronikkonzern General Electric, 550 beim Jeansnäher Levi Strauss. Und so weiter.

Im Dorf Tárnok bei Budapest lebt Istvan Radnoj mit seiner Frau Ibolya Szendrei, vier Kindern, einem Schwiegersohn, einer Verlobten und einem Enkelkind im Fünf-Zimmer-Häuschen, das Radnoj vor 20 Jahren selbst gebaut hat. Der Vorraum der kleinen Treppe ist als Wohnzimmer eingerichtet, ein paar an die Wand genagelte Teller und eine Blumenbank mit sechs Topfpflanzen sind der einzige Schmuck.

Im August 2008 verloren Mutter Ibolya und ihr Sohn Attila ihre Arbeit in der für die kriselnde Bauindustrie arbeitenden Keramikfirma Kerox. Rosaria, die Braut des ältesten Sohnes, wurde im Februar von einem Autozulieferer in Budapest entlassen. Dem zweiten Sohn der Familie sagte sein Vorgesetzter, er werde mit anderen bald entlassen, wenn keine neuen Aufträge hereinkämen. Nur noch Vater Istvan hat einen bisher sicheren Job bei einer schwedischen Schokoladenfabrik.

Seitdem drei Gehälter weggefallen sind, können die Radnojs nicht einmal mehr ihre Gasrechnung bezahlen. "Dazu haben wir einen nicht abbezahlten Kredit und Angst, dass die Bank das Haus pfändet", sagt Ibolya Szendrei, der vier Kinder und drei Jahrzehnte Fabrikarbeit harte Falten ins Gesicht gekerbt haben. "Ich weiß nicht, was wir tun werden, wenn wir nicht bald wieder Arbeit finden."

Die kommenden Monate bieten keinen Grund zur Zuversicht. Wirtschaftliche Prognosen fallen von Monat zu Monat pessimistischer aus: Die Londoner Finanzfirma Capital Economics rechnet mittlerweile damit, dass Ungarns Wirtschaft in diesem Jahr um 7,5 Prozent schrumpft. "Die Produktion geht weiter rapide zurück, die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Wir wissen nicht einmal, ob sich das wenigstens 2010 ändern wird", sagt Gabór Oblath von der ungarischen Nationalbank.

Keine Stadt in Ungarn haben die Entlassungen härter getroffen als das eine Autostunde nördlich von Budapest gelegene Esztergom, jahrhundertelang Sitz der ungarischen Könige. Mit seiner idyllischen Lage im Donaubogen, dem sehenswerten Burgberg der Könige und Erzbischöfe und herausragenden Museen ist das 30 000-Einwohner-Städtchen ein Juwel. Doch außerhalb Ungarns kennen es nur wenige. Auch einheimische Touristen kommen meist nur für ein paar Stunden hierher und lassen wenig Geld in der Stadt.

Dass Esztergom den Platz vor dem Rathaus trotzdem vor Kurzem schmuck renovieren konnte, verdankt es der Autoindustrie: Suzuki eröffnete in Esztergom 1992 eine Fabrik, gab über 6000 Menschen Arbeit und finanzierte mit seinen Steuern mehr als ein Zehntel des städtischen Haushalts. Jetzt trifft die Krise der Autoindustrie auch Suzuki mit voller Wucht. Seit Dezember hat der japanische Autokonzern in Esztergom 1500 Menschen entlassen.

Die 45 Jahre alte Veronika Berkesi arbeitete wie ihr Mann und die erwachsene Tochter bei Suzuki - jeder in einer anderen Schicht. So war immer jemand für das vier Jahre alte Nesthäkchen Kitte da. Mitte Januar verlor Veronika ihren Arbeitsplatz in der Qualitätskontrolle von Suzuki. Auch die Berkesis haben vor zwei Jahren einen Kredit in Schweizer Franken aufgenommen, um sich ein vier Zimmer kleines Häuschen zu kaufen. "Den Kredit können wir nur bezahlen, wenn alle einen Job haben", sagt die zierliche Frau. Kurz nach ihrer Entlassung schrieb die Stadt zwei Koch- und eine Kellnerstelle im Restaurant des städtischen Spaßbades aus - und bekam 40 Bewerbungen. Veronika Berkesi bekam die Kellnerstelle: "Ich habe vor Glück geweint."

1200 Bürger Esztergoms sind seit Beginn der Krise entlassen worden. Ein Ende der Krise sei nicht in Sicht, sagt Bálasz Steindl von der Stadtverwaltung. "Für Anfang April hat der Autozulieferer Tyco bis zu 400 Entlassungen angekündigt." Bürgermeister und Stadtdirektor haben ein städtisches Beschäftigungsprogramm für Krisenopfer aufgelegt.

Doch das hat nur für ein paar Dutzend Arbeitslose neue Dauerjobs gebracht. Der größte Teil der angepriesenen Stellen beim Straßenbau oder in der Gartenpflege sind Saisonjobs. Sichere Arbeitsplätze gibt es immerhin bei der neu gegründeten Stadtwache. Vor ein paar Wochen erlebte Esztergom seinen ersten Banküberfall. Jetzt patrouillieren kräftige junge Männer, die vorher bei Suzuki arbeiteten, als städtische Aufpasser die Straßen Esztergoms. In Dienstwagen von Suzuki natürlich.

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