Der Direktor des Instituts für faire politische Analyse (Méltányosság), Ervin Csizmadia, über unterschiedliche budgetpolitische Standpunkte, die parteiische ungarische Öffentlichkeit, die Gründe für die Demokratiedefizite des Landes und die Schwächen des Fidesz. Die Regierung von Gordon Bajnai hat das Budget für 2010 geschnürt. Wie beurteilen Sie die Haushaltspläne für das kommende Jahr?
Was das Budget betrifft, muss ich etwas weiter ausholen. Vor dem Hintergrund der globalen Wirtschaftskrise haben sich hierzulande zwei unterschiedliche Standpunkte herauskristallisiert. Einer der beiden Standpunkte wird vom Regierungslager vertreten: Die Regierung Bajnai und die hinter ihr stehenden Sozialisten sind bestrebt, den äußeren Zwängen gerecht zu werden. Der Öffentlichkeit legen sie den Haushalt 2010 mithin als Budget der Opferbringung dar und verweisen dabei auf die strengen Vorlagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die wenig Bewegungsspielraum zulassen. Demgegenüber sagen die oppositionellen Jungdemokraten (Fidesz), dass die budgetäre Flickschusterei der Regierung keinen Sinn mache. In den Augen des Fidesz hat sich das bisherige Wirtschafts- und Finanzsystem überlebt. Aus diesem Grund pocht die Oppositionspartei auf eine Umkrempelung des gesamten Systems, was auch eine andere Budgetpolitik mit sich bringen würde. Wird die Budgetpolitik der Regierung Bajnai das Land aus der Krise führen?
Aufgrund der makrowirtschaftlichen Zwänge, die ich vorhin angesprochen habe, ist die Regierung nicht in der Lage, die Krise nachhaltig in den Griff zu bekommen. Hier stellt sich auch die Frage, ob die Messgrößen, die weltweit die Wirtschaftsleistung der einzelnen Staaten messen, also vor allem das Bruttoinlandsprodukt (BIP), den Zustand der Wirtschaft und Gesellschaft eines Landes authentisch widerspiegeln, oder nicht vielleicht zu kurz greifen. Sollte nicht vielmehr das Lebensniveau eines Landes zur Feststellung seines wirtschaftlichen Zustands herangezogen werden? Die Budgetpolitik der Regierung Bajnai jedenfalls wird den überkommenen makrowirtschaftlichen Erfordernissen gerecht, also der Steigerung des BIP. Ich hoffe, dass auch in Ungarn früher oder später eine öffentliche Diskussion über die Frage stattfinden wird, wie der wirtschaftliche Zustand des Landes am besten zu messen sei, anhand des BIP, oder anhand des Lebensstandards zum Beispiel. In Frankreich ist dies bereits ein Thema. Hinsichtlich einer zukunftsweisenden Wirtschafts- und Budgetpolitik wäre es meiner Ansicht nach wichtig, die Erwartungen der internationalen Finanzinstitutionen wie die des IWF und diejenigen der Bevölkerung unter einen Hut zu bringen. Dies ist derzeit nicht der Fall.
Richtig. Ungarn befindet sich deshalb in argen Nöten, weil die politische Elite des Landes von Seiten der Öffentlichkeit keinerlei Kontrolle unterliegt. Im Gegensatz zu den Demokratien in Westeuropa ist die öffentliche Meinung in Ungarn parteiisch. Die Menschen in Ungarn beurteilen heute alles durch die Brille der Partei ihrer Präferenz. Deshalb müssen wir von einer parteiischen Öffentlichkeit sprechen. Worauf führen Sie dies zurück?
Auf das niedrige Wohlstandsniveau. Die liberale Demokratie ist hierzulande deshalb schwach ausgeprägt, weil es nur wenigen Menschen gegeben ist, eine bürgerliche Existenz in relativem Wohlstand zu führen. Nach 1989 hat es in Ungarn, ebenso wie in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, keinen Wohlstandsschub gegeben, also keinen merklichen Anstieg des Wohlstandsniveaus breiter Bevölkerungsschichten. Nur zum Vergleich: Im Westen haben sich nach 1945 Wohlstandsgesellschaften herausgebildet, was bedeutet, dass sich in den westlichen Ländern auch die Demokratie gut verankern konnte. In Ungarn wiederum konnte sich mangels eines Wohlstandsschubs weder eine Zivilgesellschaft noch eine Bürgerlichkeit herausbilden. Aus diesem Grund gebricht es der Gesellschaft auch an Toleranz. Die Menschen sind zumeist dann tolerant, wenn sie eine gesicherte Existenz haben. Kommen wir nun auf die Innenpolitik zu sprechen. Wird der Fidesz die bevorstehenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 gewinnen?
Die meisten Experten gehen davon aus. Ich bin da vorsichtiger. Es können immer Dinge geschehen, die die jetzige Konstellation und Chancenverteilung durcheinanderwirbeln können. Warten wir also ab. Was wir zurzeit beobachten können, ist, dass der Fidesz weniger militant auftritt. Der Fidesz-Vorsitzende Viktor Orbán zum Beispiel hat bereits etliche Gesten in Richtung des linken Lagers gemacht. Sollten die Jungdemokraten an die Macht gelangen, sehe ich ihr größtes Problem auf internationaler Ebene. Erinnern wir uns nur an die Legislaturperiode 1998-2002 zurück, als sich die vom Fidesz angeführte Regierung wegen ihrer schroffen, national orientierten Politik in vielen Ländern unbeliebt gemacht hat. Da die Jungdemokraten mit wenigen Diplomaten bestückt sind, habe ich meine Zweifel daran, ob eine Fidesz-Regierung international gute Figur machen wird. Dies hätte natürlich auch negative Folgen für Ungarn. Wie beurteilen Sie die Situation der regierenden Sozialisten?
Die MSZP muss sich erneuern und endlich zu einer modernen sozialdemokratischen Partei werden. Meiner Meinung nach kann ihr dies nur in der Opposition gelingen. Die Partei muss sich nicht nur von den alten Kadern befreien. Sie muss auch ihre selbstgerechte Attitüde ablegen, dass nur sie allein imstande ist, das Land kompetent zu führen. Wie erklären sie sich den Vorstoß der rechtsradikalen Partei Jobbik?
Das Phänomen Jobbik ist kein Novum in Europa. Radikale Parteien wie Jobbik preschen in Sachen Wählerzuspruch immer dann vor, wenn die Regierungen schlechte Arbeit leisten. Neben der schwachen Regierungsleistung in den vergangenen Jahren hat aber auch die, nennen wir es Inkonsequenz, des Fidesz zur Stärkung von Jobbik geführt. Denken wir nur daran, dass die Jungdemokraten der Regierung von Gyurcsány immer wieder gedroht haben, sie davonzujagen. Letztlich ist aber nichts geschehen. Viele Wähler haben dies als Impotenz des Fidesz aufgefasst und sind zum radikaleren Jobbik gewandert. Glauben Sie, dass der Fidesz eine Koalition mit Jobbik eingeht, sollte er die Wahlen gewinnen und die rechtsradikale Partei den Einzug ins Parlament schaffen.
Nein, auf keinen Fall. --------------------------------------------------- |