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Gesendet: Sonntag, 14. Februar 2010 21:20
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„Ungarn hat ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich“ 14.02.2010 | 18:30 | JUTTA SOMMERBAUER (Die Presse)
Lajos Bokros, Ökonom und Spitzenkandidat des Demokratischen Forums, verlangt rasche Reformen. Die öffentliche Sicherheit hat sich verschlechtert. Die extreme Rechte schiebt das den Roma in die Schuhe.
Aus dem Archiv:
- Ungarn: „Vom Bummler zum Spitzenläufer“ (19.01.2010)
- Studie: „Die Boomjahre in Osteuropa sind vorbei“ (26.11.2009)
- Rumänien: Verlierer der Präsidentenwahl verbünden sich (25.11.2009)
- Regierungswechsel: Ungarn vor Sparprogramm (22.03.2009)
- Ungarn: Premier Gyurcsany bietet Rücktritt an (21.03.2009)
„Die Presse“: Ungarn galt früher als Vorzeigeland für Reformen. Mittlerweile ist es von der Krise schwer getroffen. Was sind die Gründe für den Niedergang?
Lajos Bokros: In den 1990ern war Ungarn bei Reformen immer vorn dabei. Das änderte sich 2000, 2001. Damals hatten wir eine Regierung, die dachte, man müsse das Wachstum noch mehr verstärken. Statt ein von Export getriebenes Wachstum zu haben, wollten sie Wachstum an die Inlandsnachfrage knüpfen. Diese wurde durch höhere Staatsausgaben angekurbelt. Egal, welche Regierung seither am Ruder war, sie verfolgte diese Politik. Die regierenden Parteien dachten, dass öffentliches Defizit und Schulden egal wären. Für die Krise waren wir ein leichtes Opfer. Dieses zweite Jahrzehnt ist eine „verlorene Dekade“. Vergangenes Jahr schrumpfte die Wirtschaft um sieben Prozent.
Heute sind wir auf dem Stand von vor zehn Jahren, das künstliche Wachstum der Nullerjahre ist verloren. Die Leute sind wütend, sie fühlen sich betrogen. Aber sie sehen nicht, dass die Gründe dafür nicht nur bei den Sozialisten liegen, sondern auch bei den anderen großen politischen Parteien wie Fidesz.
Fidesz wird allerdings ein haushoher Sieg bei der Parlamentswahl im April prognostiziert. Bokros: Demokratie ist eine harte Sache. Ich gehöre nicht zu denen, die kurzfristig Stimmen maximieren wollen und den Leuten dafür das Blaue vom Himmel versprechen – die anderen Parteien tun das aber. Langfristig benötigt Ungarn eine realistische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Das Ungarische Demokratische Forum (MDF) ist die einzige Partei, die eine solche vertritt.
Mit einem harten Sparkurs, wie Sie ihn fordern, macht man sich bei den Wählern nicht beliebt. Bokros: Aber wir können uns nicht so einen großen Staatsapparat leisten. Einsparungen im Gesundheitsbereich, im Bildungswesen, bei der Verwaltung und im Pensionssystem sind bitter nötig.
Laut Umfragen könnte das MDF den Einzug ins Parlament diesmal nicht schaffen. Bokros: Das wurde auch in der Vergangenheit immer wieder behauptet. Es ist nicht wahr. Sicher, diese Partei wird nicht in die Regierung kommen, und ich will kein Juniorpartner von Fidesz sein.
Man sagt, in Ungarn seien Sie einer der unbeliebtesten Politiker – wegen Ihres Sparpakets 1995/96, als Sie Finanzminister waren. Bokros: Jetzt bin ich nicht mehr so unbeliebt.
Sind Sie sicher? Bokros: Ja, denn jetzt erinnern sich die Menschen an die Neunziger als „goldene Ära des Wachstums“. Sie denken sich: Vielleicht hatte dieser verdammte Bokros doch recht!
Laut einer Umfrage würde ein Fünftel der Ungarn eine rechtsextreme Partei wählen. Was sind die Gründe für die Popularität einer Partei wie Jobbik? Bokros: Der wichtigste Grund ist der ökonomische Niedergang. Auch die öffentliche Sicherheit hat sich verschlechtert. Die extreme Rechte schiebt das den Roma in die Schuhe. Und es gibt gewisse Gebiete, in denen die Romabevölkerung wächst, und sie sind noch häufiger arbeitslos. Das führt zu Spannungen. In dieser Hinsicht ist auch das ungarische Bildungssystem sehr schlecht, denn es setzt auf Segregation und nicht auf Integration. Die Kommunisten kehrten dieses Problem unter den Teppich – und seitdem wurde es nicht adäquat zu lösen versucht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2010