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2011. január 4., kedd

7:812 - Was sich nun unter der neuen Regierung in Ungarn abspielt, erinnert einige an die frühen Jahre der NS-Zeit

Ungarn

Unheimliche Veränderungen

Von Franziska Gerstenberg

Budapest - das ist für viele Deutsche eine Traumstadt. Was sich nun unter der neuen Regierung in Ungarn abspielt, erinnert einige an die frühen Jahre der NS-Zeit. News.de-Kolumnistin Franziska Gerstenberg fragt sich: Kann man da noch hinfahren?

2010 habe ich zweieinhalb Monate in Budapest verbracht. «Oh», sagten meine deutschen Freunde, bevor ich abreiste. «Die Thermen, die Donau, die Jugendstilhäuser, und vom Gellértberg der unglaubliche Blick auf die Altstadt.» Ich fuhr nach Budapest, wohnte in einer kleinen Wohnung auf der Pester Seite und war begeistert – von den Thermen, der Donau, den Jugendstilhäusern.

Über die Freiheitsbrücke konnte ich in einer Viertelstunde zu Fuß zum Gellértberg laufen, ich konnte ihn, wenn ich wollte, jeden Tag besteigen und weit übers Land schauen. Ich aß Paprikahühnchen und erinnerte mich an meine Kindheit: Camping am Donauknie. «Ja», seufzten meine Freunde, «Ungarn ist ein Paradies – von der Politik mal abgesehen.»

Da ich kein Ungarisch spreche, begegnete mir die ungarische Politik auch während meiner Budapester Monate hauptsächlich in den deutschen Medien. Ich verfolgte auf tagesschau.de den Dammbruch von Kolontár, bei dem ganze Landstriche mit schwermetallhaltigem Rotschlamm verseucht wurden. Und das war nicht der einzige giftige Dammbruch.

Seit Frühjahr 2010 regiert im ungarischen Parlament Ministerpräsident Viktor Orbán. Seine Partei, der rechtspopulistische FideszUngarischer Bürgerbund, hat eine Zweidrittelmehrheit und ist damit in der Lage, die Verfassung zu ändern. Orbán installierte einen Präsidenten, dessen einzige Funktion darin zu bestehen scheint, jedes, aber auch wirklich jedes Gesetz zu unterzeichnen. Gleich nach der Wahl wurde ein Gedenktag für die großen Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg eingerichtet. Den Auslandsungarn bot man die ungarische Staatsbürgerschaft an. Als nationale Werte wurden «Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung» deklariert. Das Rentensystem wurde verstaatlicht. Als das Verfassungsgericht das betreffende Gesetz kippen wollte, wurde es selbst zur Zielscheibe und seine Befugnisse empfindlich beschnitten.

Der Traum von Großungarn

Während ich in Budapest lebte, wählte die Stadt einen neuen Bürgermeister, ebenfalls von der Fidesz-Partei. Er kündigte an, die Obdachlosen aus den Unterführungen zu vertreiben - eine rein kosmetische Aktion angesichts von 3000 Obdachlosen in der Metropole. «Säuberung» war denn auch der verwendete Begriff. Und natürlich sollen die Roma als Nächste aus dem Stadtbild verschwinden.

Antisemitismus und Antiziganismus haben in Ungarn in den vergangenen Jahren zugenommen. Die rechtsextreme Jobbik ist seit den Wahlen 2010 drittstärkste Kraft im Parlament, ihre Anhänger sehen sich in der Tradition der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler und träumen von Großungarn.

«Das Trauma heißt Trianon», sagte mir ein Bekannter. Er lebt seit zwanzig Jahren in Budapest - aber weil er Franzose ist, wird er von den ungarischen Männern abgelehnt. «Zum Glück nur von den Männern», sagte er und lächelte seine ungarische Ehefrau an. Der Vertrag von Trianon war einer der Pariser Vorortverträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten, und er kostete Ungarn zwei Drittel seines Territoriums. Dieser Teil der Geschichte ist auf unheimliche Weise präsent, auch unter den jungen Ungarn.

Wie zu Beginn der Nazi-Zeit

Ich saß auf meinem Budapester Balkon und las ein Interview des Autors György Konrád, in dem er die aktuelle Entwicklung in seinem Land mit der Frühphase des NS-Regimes verglich. Ich las ein Interview des Nobelpreisträgers Imre Kertész, in dem er erklärte, warum es für einen jüdischen Schriftsteller momentan angenehmer und sicherer sei, in Berlin zu leben als in Budapest.

«So schlimm ist es doch gar nicht», sagten mehrere Budapester, «das bauschen die deutschen Medien bloß auf.» Immerhin hätten die Sozialisten das Land zuvor ins finanzielle Desaster geführt. Nun müsse man Orbán erst mal die Chance geben, es besser zu machen, die Korruption einzudämmen.

«Oh doch», sagte eine andere Budapesterin, «genau so schlimm ist es und eigentlich noch viel schlimmer. Wenn dir jemand das Gegenteil erzählt, hast du die falschen Leute gefragt. Aber das ist ja das Dilemma: Alle sind müde und hoffen nicht länger auf die Politiker und machen den Mund nicht auf.»

Jetzt, 2011, bin ich zurück in Deutschland. Gerade hat Ungarn für ein halbes Jahr den EU-Vorsitz übernommen – und am gleichen Tag sein umstrittenes Mediengesetz in Kraft treten lassen. Die Macht der neuen Kontrollbehörde wurde in der Verfassung verankert und ihre Vorsitzende auf neun Jahre ernannt, also weit über die Legislaturperiode hinaus. Die größte Gefahr könnte nun vielleicht nicht einmal in der Zensur, sondern in der Selbstzensur liegen: Die angedrohten hohen Strafen würden private Medien leicht in den Ruin treiben.

Meine deutschen Freunde seufzen. «Sollten wir jetzt aus Protest nicht mehr nach Budapest fahren», fragen sie. « Aber da gibt es doch noch die Thermen, die Donau, die Jugendstilhäuser und den unglaublichen Blick auf die Altstadt.»

Natürlich soll man fahren. Aber man muss die Augen offenhalten, 2011, und das nicht nur beim Blick auf die schönen Fassaden. Man muss den Mund aufmachen und wach bleiben und auf eine kritische EU hoffen. Und im Zweifelsfall muss man auch mal die richtigen Leute fragen.

Franziska Gerstenberg ist news.de-Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie war Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Edit und hat mehrere Literaturpreise gewonnen, unter anderem für ihren Erzählband Solche Geschenke. Die gebürtige Dresdnerin lebt derzeit in Stuttgart, wo sie mit einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude arbeitet.