Die Wahlprogramme der bei der Europawahl antretenden Parteien zeigen eine bemerkenswerte Tendenz: Während die derzeit im Europaparlament vertretenen Parteien sich nicht selten mit Plattitüden und innenpolitischen Slogans begnügen, präsentieren kleinere Parteien konzise, mehrere Dutzend Seiten starke Programme.
MSZP betrachtet EU als „Milchkuh“
Die MSZP, die mit neun Abgeordneten die zweitgrößte ungarische Delegation stellt, setzt im Wahlkampf vor allem auf die Ergebnisse ihrer seit 2002 dauernden Regierungszeit im Inland, die detailliert ausgeführt werden. Was die Partei im neuen Europaparlament vorhat, wird hingegen nur am Rande erwähnt. Das größte Gewicht nimmt hierbei das Ziel ein, möglichst viele EU-Fördermittel für Ungarn an Land zu ziehen. So wollen die Sozialisten mehr Geld für die ungarische Landwirtschaft, für Erasmus-Stipendien für ungarische Studenten, für Maßnahmen im Rahmen der gemeinnützigen Arbeit sowie zur „Unterstützung arbeitsloser ungarischer Bürger“. Außer dieser Sichtweise auf die Europäische Union als „Milchkuh“ weiß die MSZP nichts über ihren Blick auf Europas Zukunft zu berichten, versäumt in ihrem Material aber nicht, stichpunktartig zu schildern, was die Abgeordneten des Fidesz in der vergangenen EU-Legislaturperiode so alles falsch gemacht haben.
Euroeinführung im Visier des Fidesz
Der Fidesz seinerseits hält sich gar nicht erst mit der Europäischen Union auf. In seinem Programm mit dem Titel „Ja, Ungarn ist zu mehr fähig!“ kritisiert die Partei, die derzeit mit zwölf Abgeordneten in Brüssel und Straßburg vertreten ist, lediglich die Politik der Regierung auf dem Gebiet der Verwendung der EU-Fördermittel scharf. Die Partei ist der Meinung, dass die zur Verfügung stehenden Gelder nicht in erster Linie für spektakuläre Großprojekte verwendet werden sollten, sondern mindestens zu 30% für die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen. Der Fidesz schlägt vor, dass die Besteuerung auch in Zukunft nationale Kompetenz bleiben, Ungarn die möglichen Sonderregelungen in Anspruch nehmen und einen geringeren Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel und lokale Dienstleistungen anwenden soll. Daneben fordert der Fidesz die Abschaffung von „Steuerparadiesen“ in der Union sowie ein einheitliches europäisches Bankenaufsichtssystem und eine starke Kontrolle von Offshore-Tätigkeiten. Ansonsten liest sich das Fidesz-Material bereits wie ein Wahlprogramm für die im kommenden Frühjahr anstehenden Parlamentswahlen.
Ausführlich beschäftigt sich der Fidesz mit dem seit langem immer wieder verschobenen und letztendlich ganz gestrichenen Zieldatum für die Einführung des Euro in Ungarn, was nur scheinbar ein EU-relevantes Thema ist. In Wirklichkeit geht es um die Haushaltspolitik der ungarischen Regierung: Laut Fidesz besteht das Risiko einer Aufweichung der Haushaltsdisziplin im noch verbleibenden Zeitraum der Minderheitsregierung, weshalb derzeit ein Zieldatum aus einer Oppositionsposition heraus verantwortungsvoll nicht angegeben werden kann. Dem Programm des Fidesz zufolge ist parallel zur Einführung des Euro auch eine Umstrukturierung des Haushalts erforderlich. Um einen Anreiz für ein Zurückdrängen der Schattenwirtschaft zu schaffen, müssen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gesenkt werden. Parallel dazu müssen die Staatsausgaben gekürzt werden, weil nur so das Defizit verringert und die Steuersenkung dauerhaft verwirklicht werden kann.
SZDSZ fordert Sparmaßnahmen in Brüssel
Der SZDSZ, der derzeit zwei Abgeordnete im Europaparlament hat, buhlt mit einem dreiseitigen Programm um die Wähler. Erster Punkt dieses Programms ist das Versprechen, „im Europäischen Parlament und auf jedem sich bietenden Forum“ dafür einzutreten, dass Österreich und Deutschland ihren Arbeitsmarkt vor dem endgültigen Datum, dem 1. Mai 2011, für ungarische Arbeitnehmer öffnen. Auch in anderen Punkten fordern die Freidemokraten eine Liberalisierung, allerdings nur dort, wo es ihnen passend erscheint: Während sie den freien Verkehr von Dienstleistungen ohne die „protektionistische Praxis mit Hinweis auf Arbeits- oder Verbraucherschutz“ und konkret die Liberalisierung von Post und Eisenbahn fordern, würden die Liberalen sehr gern zusätzliche Steuergelder für die „technische und finanzielle Unterstützung der Länder außerhalb der Eurozone“ annehmen. Auch im Agrar- und Bildungssektor sieht der SZDSZ ähnlich wie die MSZP Möglichkeiten für zusätzliche Geldtransfers aus Brüssel. Besonders wichtig ist den Liberalen eine „gemeinsame europäische Minderheitenpolitik“, die die „Identitätserhaltung, die nachhaltige Entwicklung und die Modernisierung“ der traditionellen nationalen Minderheiten Europas befördert. Einen ganz konkreten Sparvorschlag hat der SZDSZ zu guter Letzt auch: Das Europäische Parlament soll statt derzeit drei (Brüssel, Straßburg, Luxemburg) nur noch einen Sitz in Brüssel haben.
MDF will baldigen Beitritt Kroatiens
Weniger konkret geht es beim MDF zu. Neben dem Programm für die Parlamentswahlen 2006 findet sich auf der Homepage des Demokratischen Forums lediglich ein Brief des Listenzweiten Georg von Habsburg an die Wähler. Hierin fordert er einen „Zusammenhalt der europäischen Nationen“ und verspricht seinen Einsatz für einen raschen EU-Beitritt Kroatiens. Die beiden anderen besonderen Anliegen Georg von Habsburgs sind die Vorbereitung der EU-Präsidentschaft Ungarns im Jahr 2011 sowie das Eintreten für eine „abgestimmtere, effizientere und erfolgreichere“ Kriminalitätsbekämpfung in Europa, mit besonderem Hinblick auf organisierte Kriminalität.
Jobbik: Linkes Programm der Rechten
Die „Knaller“ unter den Wahlprogrammen liefern indes die Newcomer. Sowohl die rechtsnationale Partei Jobbik als auch die grüne Partei Lehet Más a Politika beeindrucken mit kompetent herausgearbeiteten, 56 beziehungsweise 44 Seiten starken Programmen. Bei den darin vermittelten Werten ergibt sich eine interessante Verschiebung: Jobbik verzichtet mit Ausnahme des uninspirierten Slogans „Ungarn gehört den Ungarn“ vollständig auf rechte Parolen und setzt stattdessen auf globalisierungs- und kapitalismuskritische Positionen, die jeder linken Antiglobalisierungsorganisation gut anstehen würden. Unter dem Motto „Mensch und Gemeinschaft statt Geld und Profit“ geißelt Jobbik in seinem Programm die Bürokratisierung der EU und die daraus erfolgende Korruption, den übermäßigen Einfluss der Großkonzerne und das nach Ansicht der Partei allmächtige Prinzip der Profitmaximierung. Jobbik fordert ein „Europa der Nationen“ und postuliert weltmännisch: „Zu einer Zusammenarbeit der Völker Europas gibt es keine Alternative.“ Mit keinem Wort werden die Nachbarländer angegriffen, sondern lediglich um „Verständnis“ für die dort lebende ungarische Minderheit geworben. In diesem Sinne stellt die Partei das Schicksal der Ungarn in den Nachbarländern geschickt auf eine Ebene mit demjenigen der Katalanen, Basken und Südtiroler.
Wesentliche konkrete Punkte im Jobbik-Programm sind die Agrarpolitik (bei der Frage des Moratoriums für den Kauf von Ackerland durch Ausländer wartet die Partei gar mit einem fertigen Gesetzesvorschlag auf), die Situation der Arbeitnehmer, die Lebensmittelsicherheit und die Energiepolitik. Auf allen diesen Feldern fordert Jobbik eine Umorientierung der Politik weg von den Interessen der Großunternehmen hin zu den Bürgern. Interessant ist die Position der Partei in der Gasfrage: Im Gegensatz zu MSZP und SZDSZ gibt sie, die die Russlandorientierung der Regierung Gyurcsány stets vehement kritisiert hat, dem von Gazprom initiierten Pipeline-Projekt „South Stream“ den Vorzug vor dem europäischen Nabucco-Projekt. Wörtlich heißt es: „Wir müssen sehen, dass die Pipeline, für deren Bau eine realistische Chance besteht, […] South Stream ist.“
LMP fordert stärkere Kontrolle der Finanzmärkte
Nicht minder überraschend ist das Programm der vor kurzem gegründeten Partei LMP, die einen markanten Rechtsruck vollzieht. Ihren grünen Schwesterparteien in Europa dürfte insbesondere das Kapitel „Nationspolitik“ schwer zu vermitteln sein. Darin werden ohne Rücksicht auf die hinlänglich bekannten Empfindlichkeiten der Nachbarvölker weitgehende Kollektiv- und Autonomierechte für die ungarischen Minderheiten gefordert. Die gesamte Roma-Problematik hingegen, die durchaus eine europäische Dimension hat, wird vollständig ausgeklammert. Wirtschaftspolitisch steht LMP ähnlich wie Jobbik weit links und verlangt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte und die Einführung der so genannten Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen. In der Agrarpolitik will LMP das Moratorium für den Ackerlandkauf von Ausländern auch nach 2011 aufrecht erhalten und die EU-Agrarsubventionen stärker auf kleine und mittlere Betriebe fokussieren. In der Energiepolitik setzt die Partei wenig überraschend auf erneuerbare Energien und befürwortet als einzige ungarische Partei die Atomenergie nicht explizit. Auffallend ist, dass LMP zusammen mit Jobbik die einzige Partei ist, deren Programm ganz offensichtlich von Fachleuten erstellt worden ist.
Nationalistische Züge der Kommunisten
Ganz im Gegensatz zur Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei, die aber auf weitaus populistischere Weise ähnliche Ziele hat wie Jobbik und LMP. Auch den Kommunisten geht es um den „Schutz der ungarischen Werktätigen gegen das ausländische Kapital“, wie es in dem auffallend nationalistisch klingenden Programm heißt. Ansonsten fordern die Kommunisten die Eindämmung der Korruption, eine Neuordnung der Wirtschaft und mehr Möglichkeiten für junge Menschen. Es findet sich wenig Europäisches, wenn man von der Forderung des Austritts aus der NATO sowie dem Gedanken, dass die EU als Nutznießerin der Wende selbige „bezahlen“ soll, absieht. Ungewöhnlich ist der Vorschlag, neben einem Mindestlohn von 100.000 einen Höchstlohn von 1 Million Forint einzuführen.
MCF: Kranken Amoklauf gegen Roma beenden
Bleibt noch die Roma-Partei MCF, die zwar bislang kein Wahlprogramm hat, aber für alle 12 Millionen Zigeuner in Europa eintreten möchte. Stolz weist das MCF darauf hin, dass es die einzige Roma-Partei in ganz Europa ist, die zur Wahl antreten konnte. Die Interessen der Zigeuner soll in Brüssel der jüngste Spitzenkandidat Ungarns, der 21-jährige Zsolt Kis, vertreten. Inhaltlich will die Partei naturgemäß eine Besserstellung der Roma erreichen, namentlich durch die gezielte Förderung von speziellen Projekten durch die EU. „Bei der Europawahl steht auf dem Spiel, ob der kranke Amoklauf gegen die Zigeuner beendet werden kann“, so das MCF.
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