Ungarn in der FinanzkriseKreditbedingungen wie für ein Land der Dritten WeltVon Reinhard Olt
30. Oktober 2008 Es ist noch keine zwei Wochen her, dass der ungarische Notenbankchef András Simor vollmundig verkündet, sein Land habe nicht vor, die von der Europäischen Zentralbank (EZB) gewährte Kreditlinie von fünf Milliarden Euro zu nützen: „Wir brauchen das Geld der EZB nicht", sagte er in einem Interview mit dem „Wall Street Journal". Jetzt muss Ungarn Kreditzusagen von 20 Milliarden Euro in Anspruch nehmen, die EU, Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) in einer gemeinsamen Aktion gaben, um seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Im Gegenzug musste sich die ungarische Regierung verpflichten, sowohl die Konsolidierung des Staatshaushalts voranzutreiben als auch strukturelle Reformen einzuleiten.
In einer Werbekampagne hatten die Sozialisten von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány den Ungarn noch vor kurzem eine kräftig wachsende Wirtschaft, höhere Einkommen und Renten in Aussicht gestellt. Nun lässt die Regierung einen Staatssekretär im Finanzministerium mitteilen, das Land müsse sich auf eine Rezession einstellen, die Wirtschaft werde 2009 um ein Prozent schrumpfen. Ministerpräsident Gyurcsány kündigte Einsparungen im öffentlichen Dienst, das Einfrieren und sogar Kürzungen bei Gehältern und drastische Einschnitte bei den Renten an. Damit versucht er Bedingungen zu erfüllen, die der IWF für die Gewährung des Milliardenkredits zur Voraussetzung gemacht hat.
„Jetzt stehen wir mit heruntergelassenen Hosen in den Brennnesseln"
Ministerpräsident Gyurcsány hat die Versäumnisse der ungarischen Politik, die zu der katastrophalen Lage beigetragen haben, schon einmal klar benannt - in seiner legendären „Lügenrede", nach deren Bekanntwerden im September 2006 es in Budapest zu mächtigen Straßenprotesten kam, die mehrere Nächte in gewaltsamen Ausschreitungen mündeten. Die Rede selbst hatte Gyurcsány unmittelbar nach der Wahl in einer Klausur der eigenen Parlamentsfraktion gehalten: Die im Wahlkampf gemachten populistischen Versprechen seien Lügen gewesen, nun müsse wegen des großen Budgetdefizits - des höchsten in der EU - mit einem strengen Sparkurs begonnen werden.
Das haben die Ungarn schon einmal erlebt. Mitte der neunziger Jahre hatte das Budget schon einmal ein so bedrohliches Defizit erreicht, dass die Regierung - auch damals von den Sozialisten gestellt - die Notbremse ziehen musste. Gesamtwirtschaftlich wirkte das Programm, doch die meisten Ungarn mussten beträchtliche Lohneinbußen hinnehmen. Die Folge war zunächst ein Wahlsieg der konservativen Opposition, die der Bevölkerung Linderung versprach - und dann ein Nachlassen des Reformeifers, unabhängig davon, ob rechte oder linke Regierungen am Ruder waren. Renten-, Gesundheits- und Bildungswesen blieben weitgehend unreformiert, verschlingen viel Geld und gelten dennoch als wenig effizient. Ein ungarischer Börsianer befand neulich: „Wir haben keine Rücklagen gebildet und geglaubt, man könne Jahrzehnte hindurch nur Schulden machen. Jetzt stehen wir mit heruntergelassenen Hosen in den Brennnesseln."IWF-Kredit erregt Besorgnis
Mit einem Reformprogramm will Ministerpräsident Gyurcsány nun sein politisches Überleben sichern, nachdem die Koalition mit den Liberalen im Frühjahr im Streit über die Gesundheitsreform zerbrochen war. Er versucht, die Liberalen und eventuell auch die Abgeordneten der oppositionellen Forumsdemokraten (MDF) für die Verabschiedung des Haushalts im Dezember zu gewinnen. Ein „nationaler Gipfel", mit dem er versuchte, auch die oppositionelle Bürgerallianz (Fidesz) seines ärgsten Widersachers Orbán einzubinden, verlief im Sande, obwohl sich die beiden erstmals seit langem vor laufender Kamera wieder die Hand gaben.
Dennoch stehen seine Chancen, weiterregieren zu können, nicht schlecht, da ihm sowohl die Liberalen als auch das MDF angesichts der Finanzkrise Unterstützung signalisieren. Allein Orbáns Fidesz - von 1998 bis 2002 an der Regierung - verlangt weiter den Rücktritt des Regierungschefs: „Mit Gyurcsány hat das Land keine Chance, die Krise zu überwinden", sagte Lajos Kósa, der stellvertretende Vorsitzende. Den IWF-Kredit bezeichnete er als „besorgniserregend". Solche Kredite erhielten sonst nur Länder der Dritten Welt. Orbán rief zum Zusammenschluss gegen die Minderheitsregierung auf, der er vorwarf, ein neues Sparpaket zur Belastung der Bevölkerung zu schnüren. Stattdessen tue ein „nationales Wachstumsprogramm" not, in dessen Mittelpunkt eine Steuersenkung zu stehen habe. Für die Krise sei „allein Gyurcsány verantwortlich". Die Frage, wie er Steuersenkungen finanzieren wolle, lässt Orbán indes unbeantwortet.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: AFP
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