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2009. szeptember 4., péntek

3.256 - Laut Außenminister Horn hielten sich zu der Zeit bereits 150.000 bis 200.000 DDR-Bürger in Ungarn auf - der Druck wuchs.

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Printausgabe vom Samstag, 05. September 2009

Wiener Zeitung

Von Engelbert Washietl: Die Mühen des Systemwechsels

Vom Volksaufstand 1956 bis zur Öffnung der Grenzen 1989 war die Geschichte Ungarns von der Spannung zwischen Reformwillen und kommunistischer Orthodoxie geprägt.

Vielleicht gibt es eine historische Gerechtigkeit, die die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes von 1956 zwar nicht gut macht, aber mehr als drei Jahrzehnte danach aus dem blutigen Geschehen heilsame Kräfte ableitete.

János Kádár hatte sich als der unbarmherzige Exekutor der Tragödie von 1956 zwar nie zu einem Reformer und Antreiber gewandelt. Dennoch passte er bis zu seinem Tod am 6. Juli 1989 sogar ins Bild mancher politischen Neuerungen. Bereits 1983 hatte er dem aus Moskau angereisten Michail Gorbatschow, der damals noch ZK-Sekretär war, über die Ereignisse von 1956 gesagt, dass man "auf keinen Fall noch einmal etwas Ähnliches zulassen" dürfe.

Kádárs Zwiespalt

Das schildert Gorbatschow in seinen "Erinnerungen", wobei die Ambivalenz des Statements ins Auge springt. Entweder meinte Kádár, eine Gewaltaktion wie die Niederwerfung eines Volkes mit Panzerarmeen aus "befreundeten" sozialistischen Ländern dürfe nicht mehr möglich sein – oder aber, man dürfe es nie soweit kommen lassen, dass eine solche nötig wäre. Kádár, Vorsitzender der ungarischen kommunistischen Partei USAP von 1956 bis 1968, wäre jedenfalls für beide Versionen als Auskunftsperson zur Verfügung gestanden.

Die Jahre von 1956 bis 1989 ergeben für Ungarn einen verwirrenden Spannungsbogen. Bis heute ist die Republik nicht in der Lage, einvernehmlich und zukunftsgewandt der Revolution zu gedenken. Der Märtyrer Imre Nagy, Lichtgestalt aller Hoffnungen von 1956, war bereits 1953 als Ministerpräsident eingesetzt worden. Aber sein Reformkurs biss sich zunächst am autoritären stalinistischen Parteichef Mátyás Rákosi fest. 1955 wurde Nagy abgehalftert, aus der Partei ausgeschlossen und entehrt.

Das Vor und Zurück der Ideologien spielte im sozialistischen Lager Osteuropas aber manchmal verrückt. Kaum war Nagy entmachtet, hielt der sowjetische KP-Chef Nikita Chruschtschow im Februar 1956 seine berühmte Geheimrede, in der er die stalinistischen Exzesse verurteilte. Nicht nur die Polen, auch die Ungarn horchten auf. Budapester Studenten agitierten, die Volksmassen liefen am 23. Oktober 1956 zusammen, der Staatssicherheitsdienst ÁVH schoss scharf. Andererseits holte das Zentralkomitee zur Beruhigung der Lage Imre Nagy aus der Versenkung.

Was der sowjetische Botschafter in Budapest, Juri Andropow – später wurde er KGB-Chef und KP-Generalsekretär – nach Moskau berichtete, genügte allerdings, dass gleichzeitig eine Militäraktion zur Unterdrückung der Revolte vorbereitet wurde. János Kádár, der frühere Innenminister Ungarns, wurde als williges Werkzeug auserwählt. Er sandte den "Hilferuf" an Moskau, nachdem alles schon abgekartet war. Anfang November fuhren die Panzer der Roten Armee auf, mit 2500 wird die Zahl der Toten angegeben, rund 200.000 Ungarn setzten sich Richtung Österreich und bald danach ins fernere Ausland ab. Imre Nagy wurde nach Rumänien verschleppt und 1958 nach einem Schauprozess hingerichtet.

Das Blutgericht

János Kádár ließ ein Blutgericht über die Aufständischen – die wirklichen und vermeintlichen – niedergehen. Er zwang Ungarn auf einen absolut moskauhörigen Kurs, in den erst in späteren Jahren seiner Herrschaft Elemente innerer Freiheit eingebaut wurden. Es begann mit frei verkäuflichem Gemüse und Obst, entwickelte sich zur Preisfreigabe vieler Produkte und zu einem verstärkten Handel mit westeuropäischen Partnern, insbesondere Deutschland. In den Tourismus kam Bewegung, viele Ungarn durften weit früher als ihre Verbündeten in den Westen ausreisen, mit Österreich wurde sogar die Visumpflicht aufgehoben. Dieser Wirtschaftskurs erleichterte den Alltag, hatte aber schwerwiegende Folgen – Ungarn verschuldete sich in alle Richtungen. Kádár holte sich Kredite in Moskau, in Deutschland, in Japan. Die internationale Ölkrise tat das ihrige, um Ungarn an den Rand des Bankrotts zu treiben.

Ein Schlagwort kam in Umlauf, das angeblich von Chruschtschow geprägt worden ist: Gulaschkommunismus. Der sowjetische Parteichef wollte damit auf die wirtschaftlichen Fortschritte in Ungarn hinweisen. Mit "Kádárismus" wird das seltsame Gebilde aus totalitärem Anspruch und schrittweisen Lockerungen umschrieben. Gorbatschow hat diesen Kurs später als hilfreich für seine Perestroika-Politik betrachtet. "Kádár war es zu verdanken, dass man in Ungarn früher als in anderen Ländern versuchte, das sozialistische Modell zu verbessern und zu reformieren, sich nicht weiter mit dem zufrieden gab, was man aus der Sowjetunion übernommen hatte."

1987 wurde Károly Grosz Ministerpräsident – kein Reformer, obwohl Ungarn zu diesem Zeitpunkt bereits in den Reformtaumel gezogen wurde. 1988 schied Kádár aus dem Politbüro aus. Die Jahreswende 1988/89 bildete den Schnittpunkt zwischen alter und neuer Zeit, man könnte, auf den Silvestertag bezogen, fast sagen, dass die Ungarn den Rutsch in die neue politische Ära veranstalteten. In dieser wurde zunächst diskutiert, herausgefordert, experimentiert und manipuliert. Wirtschaft, Partei- und Verfassungspolitik standen im Vordergrund. Die Außenpolitik blieb verlinkt mit dem alten Netzwerk des Warschauer Paktes. Denn eines war wohl auch den ungestümen Reformern, die im Politbüromitglied Imre Pozsgay ihren Herold hatten, doch klar: Das Wohl und Wehe der Neuerungen hing vom Schicksal des Perestroika-Helden Michail Gorbatschow in Moskau ab. Er zwang die Partei auf einen neuen Kurs, aber die alten Sowjettruppen standen auch in Ungarn und hatten dort, wie man heute weiß, sogar Atomsprengköpfe gelagert.

Der neue Pluralismus

Grosz stellte bereits im Februar 1989 den Monopolanspruch der kommunistischen Partei, die sich seit 1956 "Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei" (USAP) nannte, in Frage; sie strebe keine privilegierte Stellung an. Es wäre ihm wenig anderes übrig geblieben, denn seit Monaten machte sich die Reform, ursprünglich ausgehend von den wirtschaftlichen Erleichterungen, "wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften" und den kleinen Erwerbstätigen, selbständig. Neue Bewegungen und Oppositionsströmungen traten auf, de facto entfalteten sich freie Parteien und ein Pluralismus. Auch historische Gesinnungsgruppen, die von den Kommunisten auf der Müllhalde der Geschichte abgelagert worden waren, meldeten sich zurück. Der intellektuelle Touch der Bewegung ist vielleicht dadurch bildlich darzustellen, dass ausgerechnet Wissenschafter und Universitätsangestellte eine unabhängige Solidaritätsbewegung ins Leben gerufen hatten – die Geburtsstunde freier Gewerkschaften, unabhängig von der dominierenden USAP.

Deren innere Spaltung war nach außen hin bereits gut erkennbar, auch an den handelnden Personen. Alt und Neu waren in der Umbruchsphase zur Symbiose verdammt. Da war Grosz, der Bedächtige, aber nicht mehr so starr wie Kádár. Daneben Pozsgay, der Mann der Neuerungen und der Zukunft, der die Legitimität der kommunistischen Partei mit den Worten in Frage stellte, dass es 1956 nicht etwa eine Konterrevolution, sondern einen Volksaufstand gegeben habe – die Basis der Partei sei eine "Lebenslüge".

Miklós Németh, der im November 1988 Grosz als Ministerpräsident ablöste, trieb den Reformprozess voran. Ein knappes halbes Jahr später bildete Németh sein zweites Kabinett und war um ein Lichtjahr weiter: Seine Aufgabe sei es, den Systemwechsel herbeizuführen und die Voraussetzungen für demokratische Wahlen zu schaffen.

Nichts deutet darauf hin, dass die Führungspersonen den Ehrgeiz hatten, Ungarn zum Scharnier der europäischen Wende zu machen. Ungarn hatte den eigenen Fortschritt und nicht den der Verbündeten im Auge. Und wenn bei jedem Experiment, bei jedem riskanten Schritt ein unsicherer Blick nach Moskau gerichtet wurde, dann doch nur, um zu erkunden, ob nicht etwa die Grenze des Zulässigen überschritten worden sei.

Außer den Ungarn und den Polen hatte Gorbatschow alle Verbündeten gegen sich und seine Perestroika. Später nannte er als Grund dafür die "peinliche Situation" der Bruderparteien. Deren politischer Kurs basierte auf der These von der führenden Rolle der KPdSU. "Die Reformen aber, die jetzt in der SU eingeleitet wurden, bedeuteten das Ende dieses Systems. Mit sowjetischen Panzern zum Erhalt der politischen Macht war nicht mehr zu rechnen. Plötzlich standen die sozialistischen Staatschefs ihrem Volk von Angesicht zu Angesicht gegenüber, gezwungen, die Berechtigung ihres Machtanspruchs durch Leistungen unter Beweis zu stellen. Sollten sie sich unter diesen Umständen für die Perestroika aussprechen?" fragte Gorbatschow sehr richtig.

Das waren die explosiven Rahmenbedingungen, die man auch in Budapest genau kannte. Die teuren Sperranlagen an der österreichischen Grenze wurden zunächst eher aus technischen und finanziellen Motiven abgebaut – sie waren reparaturbedürftig und kosteten zu viel. Erst Außenminister Gyula Horn, ein entschlossener Reformer, machte am 27. Juni 1989 Seite an Seite mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock die große politische Aktion daraus. An der DDR-Spitze mussten Bilder vom Durchschneiden des Stacheldrahtes wie ein öffentlicher Skandal ankommen.

Es war Pozsgay, der parallel dazu in einem Vortrag in Bonn erklärte, es sei nicht Aufgabe Ungarns, die Staatsbürger anderer Länder zu bewachen. Er berührte damit die Achillesferse des osteuropäischen Zwangssystems. Denn viele DDR-Bürger, denen Ungarn schon von der Plattensee-Romantik ihrer Urlaube bekannt war, dachten nur noch an Flucht. Das bereits viel beschriebene "Picknick" der Paneuropa-Bewegung am 19. August war die erste auch im Ausland registrierte kollektive Absetzbewegung.

Ungarn war zu diesem Zeitpunkt schon Mitglied der Genfer Flüchtlingskonvention. Mit Berufung auf diese humanitäre Rechtsordnung wurde der langjährige Brauch, "Republikflüchtlinge" aus der DDR und auch Rumänien aufzufangen und gesammelt an ihre Heimatländer zurückzustellen, aufgegeben – entgegen den alten Abmachungen mit den "Bruderländern". Plötzlich erhielten die DDR-Menschen eine Art Notquartier im rechtsfreien Raum Ungarns, aber keineswegs Flüchtlingsstatus. Die Lage und auch die Amtshandlungen waren rechtlich undurchsichtig und widersprüchlich, aber eindeutig eine humanitäre Verbesserung gegenüber der früheren Menschenjagd.

Über den Sommer 1989 steuerte der Konflikt dem Höhepunkt zu, der nur darin liegen konnte, dass Ungarn für DDR-Bürger offiziell die Grenze zu Österreich öffnete. Am 23. August wurden 108 DDR-Bürger (nach Bonner Version 117), die sich in der westdeutschen Botschaft in Budapest verschanzt hatten, zu nächtlicher Stunde und mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes nach Wien ausgeflogen. Die organisierte Durchlöcherung der Ostblock-Außengrenze begann.

Laut Außenminister Horn hielten sich zu der Zeit bereits 150.000 bis 200.000 DDR-Bürger in Ungarn auf – der Druck wuchs. Die DDR spie Gift und Galle gegen ihren ungarischen Verbündeten. Im Grunde geschahen alle Maßnahmen und auch Nichtmaßnahmen diverser ungarischer Behörden im rechtsfreien Raum. Es waren Tage der großen Herausforderungen für charaktervolle Politiker, die das Gebot der Stunde zu deuten wussten.

Das historische Treffen

Einer von ihnen war Ministerpräsident Németh. In all der Ausweglosigkeit bereitete er den Bankrott des osteuropäischen Völkerkerkers vor. Er ließ durch Botschafter István Horváth in Bonn anfragen, ob ihn Bundeskanzler Helmut Kohl unter Wahrung absoluter Diskretion zu einer Aussprache empfangen würde. Der Termin am 25. August wurde umgehend vereinbart, Németh und Horn flogen in der Nacht in einer Regierungsmaschine los und landeten auf dem militärischen Teil des Flughafens Köln-Bonn. Auf Schloss Gymnich empfingen Kohl und Außenminister Hans Dietrich Genscher die Besucher.

Kohl erinnert sich in seinen Memoiren, dass Németh die Lage seines Landes ungeschminkt schilderte: dass Ungarn bei der schonenden Behandlung der DDR-Flüchtlinge gültige Verträge breche, dass niemand wisse, wie Ostberlins Parteichef Erich Honecker reagieren werde, dass Ungarn reformwillig sei und Gorbatschow diesen Bemühungen positiv gesinnt sei, aber dennoch: in Ungarn stünden 200.000 sowjetische Soldaten.

Dann kam, schrieb Kohl, die "erlösende Nachricht", bei der ihm "Tränen in die Augen" getreten seien. "Eine Abschiebung der Flüchtlinge in die DDR kommt nicht in Frage" habe Németh gesagt. "Wir öffnen die Grenze. Wenn uns keine militärische oder politische Kraft von außen zu einem anderen Verhalten zwingt, werden wir die Grenze für DDR-Bürger geöffnet halten." Mitte September werde es soweit sein. Kohl sicherte Hilfe für den Fall zu, dass die Sowjetunion die Energieversorgung Ungarns stoppe, auch Kredite wurden in Aussicht genommen.

Wie vielschichtig, um nicht zu sagen doppelbödig die Krisendiplomatie lief, zeigt der nächste Schritt. Obwohl das Treffen völlig geheim sein sollte, unterrichtete Kohl "wenig später" Gorbatschow per Telefon über den Verlauf. Dieser hörte sich die Geschichte an und soll lediglich gesagt haben: "Die Ungarn sind gute Leute." Kohl: "Für das SED-Regime war das der unweigerliche Anfang vom Ende seiner Existenz."

Die Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich war nur noch eine Zeitfrage. Mit Österreich wurden auf mehreren Wegen, auch unter Einschaltung des westdeutschen Botschafters Dietrich Graf von Brühl, die Transportmodalitäten für Zehntausende Menschen Richtung Bundesrepublik Deutschland geregelt.

Physische und psychische Beschwernisse überschatteten den Lauf der Dinge selbst an der Spitze. Honecker war krank und schickte seine unbrauchbaren Forderungen und stalinistischen Pöbeleien durch Botschafter und Parteifunktionäre nach Budapest. Der letzte Brief wurde, wie Andreas Oplatka in seinem Buch "Der erste Riss in der Mauer" vermerkt, 15 Stunden vor der Grenzöffnung übergeben und von den Ungarn abschlägig beantwortet, ehe sie ihn gelesen hatten. Kohl litt unter einer plötzlich aufgetretenen Prostata-Erkrankung ("In meiner Not rannte ich im Schlafanzug durch den Kanzlergarten zur Wache."). In Begleitung eines Urologen schleppte er sich am 10. September zum Bundesparteitag der CDU in die Bremer Stadthalle.

Abgesehen davon, dass sich Kohl trotz heftiger Schmerzen dem Traum der deutschen Einheit um ein erhebliches Stück näher wusste, hatte er auch innenpolitisch ein As im Ärmel, das er dringend nötig hatte. Er hatte die Ungarn gebeten, die Öffnung der Grenze bereits um 20 Uhr des historischen Sonntags vom 10. September zu verkünden – dem Zeitpunkt seines "Presseabends" in Bremen. Außenminister Horn spielte mit und brachte die Sensationsnachricht um 19 Uhr im ungarischen Fernsehen, worauf Kohl der Presse in Bremen erklären konnte, dass für Europa alsbald eine neue Stunde schlage.

Um null Uhr war es soweit. Hunderte DDR-Leute fuhren noch in der Nacht im Scheinwerferlicht ihrer Trabis nach Österreich oder kamen zu Fuß herüber, viele weinten vor Freude. Bis zum Morgen des 15. September überschritten 13.674 Menschen die Grenze. Die Berliner Mauer hielt noch bis zum 9. November 1989, sie hatte aber schon in dieser Nacht ihre Funktion verloren.

Engelbert Washietl ist Sprecher der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor arbeitete er für das "Wirtschaftsblatt", "Die Presse" und die "Salzburger Nachrichten".

Printausgabe vom Samstag, 05. September 2009