Das Schöne an Mehrparteiensystemen ist, dass auch sie den Gesetzen von Angebot und Nachfrage und damit einem ständigen Wandel unterliegen. Die Popularität von Parteien richtet sich nicht zuletzt danach, inwieweit sie es verstehen, mit ihren Angeboten die Wünsche der Wähler zu befriedigen. Ist die Angebotspalette ungenügend, kann die unbefriedigte Nachfrage der Wähler zur Gründung von neuen Parteien führen. Anschaulich bewiesen wurde diese Möglichkeit 2003 von Jobbik und letzten Donnerstag erst wieder von der LMP. Beide Neulinge sind Produkt und Ausdruck des Versagens der etablierten Parteien. Es ist sicher nicht übertrieben, in ihnen parteigewordene Ohrfeigen für die bisherigen Parteien zu sehen – auf die erste Rechte folgte jetzt schallend eine Linke. Getragen werden beide Formationen von Wählern, die sich mit ihren politischen Wünschen und Forderungen von den angestammten Parteien nicht mehr adäquat vertreten fühlen. Diese wiederum erweisen sich als unfähig, mit einer Ausweitung ihrer Angebotspalette auf die geänderte Nachfrage zu reagieren und Konsequenzen aus dem Scheitern ihrer bisherigen Konzepte zu ziehen. Stattdessen langweilen sie jeden Zuschauer mit einem halbwegs normalen Erinnerungsvermögen nur noch mit einer permanenten Wiederholung abgedroschener Texte und Rollen. Die MSZP gefällt sich noch immer unverzagt in der Rolle des Reformers. Wobei sie jedoch stets auf der verbalen Ebene verharrt und abgesehen von – häufig wieder revidierten – Schnellschüssen, PR-Maßnahmen oder marginalen Eingriffen kaum etwas von ihren großartigen Plänen Praxis werden lässt. Kein Wunder, dass langsam auch noch so bemerkenswerte Reformvorstöße des Premiers auf immer mehr Unglauben und Desinteresse stoßen. Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit hat der Partei inzwischen ein bedenkliches Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsdefizit beschert. Von einer klaren Vision für Ungarns Zukunft oder wenigstens für den Rest ihrer Regierungszeit ganz zu schweigen. Beim Fidesz sieht es keinen Deut besser aus. Dass sich die Partei über gewaltige Popularitätswerte freuen kann, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie nur ein programmatisches Vakuum verwaltet und sich blind darauf verlässt, durch die Unfähigkeit der Regierungspartei bei Meinungsumfragen weiterhin auf dem Wellenberg zu reiten. Was zweckdienliche Konzepte betrifft, so sieht es beim Fidesz genauso mager aus wie bei der MSZP. Populistische Forderungen und Halbheiten ändern nichts an diesem Zustand. Von jemandem, der ständig „Weg mit Gyurcsány!“ schreit, sollte man jedoch erwarten, dass er für den Tag X ein wohldurchdachtes und realistisches Programm in der Tasche hat. Ebenso sollte der Ruf „Steuern runter!“ mit einer realistischen Vorstellung hinsichtlich der Gegenfinanzierung gepaart sein. Die Konzeptionslosigkeit beider Großparteien führt zu Ablenkungsmaßnahmen: Statt sich darin zu überbieten, dem ungarischen Patienten bestmöglich zu helfen, buhlen sie lediglich mit ihrem altbekannten Aufeinandereinschlag-Programm um Interesse bei den Wählern. In diesen Jahrmarktnummern kommen Probleme wie Weltwirtschaftskrise und Reformstau freilich nur als unscheinbare, bedeutungslose Requisiten am Rande vor. Kein Wunder, immerhin wird dem ahnungslosen Publikum pausenlos gepredigt, dass sich diese Probleme nach dem totalen Sieg der einen Seite ohnehin wie von selbst lösen würden. Die Fidesz-Verheißung „Gyurcsány weg – alles gut!“ konkurriert mit der MSZP-Ankündigung, dass nur noch der Widerstand des Fidesz gebrochen werden müsse, und der Renovierung des Hauses Ungarn würde nichts mehr im Wege stehen. Obamas kraftstrotzendes „Yes we can!“ wird von den ungarischen Großparteien durch den kleinlauten Zusatz „… – wenn man uns ließe.“ kastriert. Angesichts dieser Handlungsunwillligkeit ist es dann auch müßig, das „Was denn?“ ergründen zu wollen. So unsinnig diese Herangehensweise auch ist, so sehr ist sie geeignet, die eigene Impotenz und Visionslosigkeit zu bemänteln. Für Ungarn ist das MSZP-Fidesz-Gerangel verheerend. Immerhin löschen sich beide Kräfte in ihrem entgegengesetzten Tatendrang fast vollständig aus und führen zur Bewegungslosigkeit. Besonders jetzt, in einer Stunde höchster Not, ist es fatal, dass damit beide Großparteien als Gestalter des Schicksals ihres Landes praktisch ausfallen. Die Wogen können noch so hoch gegen das geschundene Ungarn anbranden, die MSZP kapriziert sich lieber darauf, zum hundertsten Mal den Nachweis zu erbringen, dass die Misere ohne die Destruktivität des Fidesz nur halb so schlimm wäre – und umgekehrt. Bei den anderen parlamentarischen Parteien sieht es nicht besser aus. Der SZDSZ verkommt immer mehr zu einem konturlosen intellektualistischen Debattierclub, der sich bestens darauf versteht, jeden auch noch so vernünftigen Vorschlag tot zu kommentieren und – analysieren. Was ohnehin vertane Liebesmüh ist, denn wenn es hart auf hart kommt, ziehen die angeblichen Liberalen vor ihrem Ex-Koalitionspartner MSZP sowieso feige den Schwanz ein. Die andere Anhängselpartei, KDNP, hat noch nie eine eigene Kontur besessen. Würden sich ihre Vertreter nicht ständig ostentativ im Nachbeten von Fidesz-Positionen üben, würde man von dieser Partei in der Öffentlichkeit überhaupt keine Notiz nehmen. Das vernünftigste und eigenständigste, was das ungarische Parlament momentan zu bieten hat, ist das MDF von Ibolya Dávid. Allerdings scheint diese Partei durch den Kampf der beiden Blöcke auf magische Weise an die Fünf-Prozent-Hürde geschweißt zu sein. Auf diese Weise, immer mit einem Bein im parlamentarischen Aus, fällt es der Partei auf Dauer natürlich schwer, mit kühlem Kopf den machtversessenen Bestrebungen der beiden Großparteien selbstbewusst entgegenzutreten. Immer der Gefahr von Abwerbungsversuchen aus deren Reihen ausgesetzt, ist der Handlungsspielraum des MDF sehr begrenzt und die Partei zu mehr politischen Rücksichtsnahmen genötigt, als für eine starke und selbstbewusste alternative Politik wünschenswert ist. Dieser unhaltbare, aber völlig festgefahrene Zustand scheint inzwischen für immer mehr ungarische Polit-Aktivisten so offensichtlich zu sein, dass sie im Interesse ihres Landes und mit beachtlichem Elan das Wagnis von Parteineugründungen auf sich nehmen. Die beachtenswertesten Initiativen sind bisher die 2003 gegründete nationalbetonte Partei Jobbik und die soeben Partei gewordene, auf Nachhaltigkeit setzende LMP. Beide Parteien verfügen über klare Visionen und können sich auf das ehrenamtliche Engagement von immer mehr leidenschaftlichen Idealisten stützen. Interessant ist auch, dass beide Parteien bei ihrer Namensgebung nicht auf die üblichen und besonders in Ungarn abgeschliffenen und vielfach missbrauchten Etiketten wie sozial, demokratisch oder christlich zurückgriffen, sondern – Nomen est Omen – ihr Programm in ihrem Namen abbilden. So vertritt Jobbik mit ihrem Namen die Vision eines „besseren Ungarn“. LMP hält sich – wenn auch etwas bescheidener – eher allgemeiner: „Politik geht auch anders!“. Mehr oder weniger deutlich grenzen sich also beide Parteien vom bisherigen ungarischen Polit-Betrieb ab. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie weit es beiden Parteien gelingt, in Anbetracht des desillusionierenden ungarischen Polit-Alltags ihren Idealismus und ihre Hoffnung auf ein besseres Ungarn zu bewahren und sich durchzusetzen. Auch dürfte interessant sein zu beobachten, wie beide Parteien in der von Korruption, Ämterpatronage, illegaler Parteienfinanzierung und verschiedensten anderen Gemeinwohlverletzungen hochgradig verschmutzten politischen Arena mitmischen wollen, ohne sich selbst schmutzig zu machen. Denn das dürfen sie auf keinen Fall. Immerhin speist sich ihr Selbstverständnis und ihre Existenzberechtigung aus dem Bewusstsein, Gegenentwurf zur bisher herrschenden politischen Klasse und ihrer das Gemeinwohl vernachlässigenden Praxis zu sein. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- |