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Gesendet: csütörtök, 2008. február 28. 18:59
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Betreff: Unglaubwürdiger Gyurcsany
28. Februar 2008, Neue Zürcher Zeitung
Die Ungarn sind der Polarisierung überdrüssig
Die Indizien für eine Normalisierung der politischen Lage mehren sich
Das bevorstehende Referendum über die Reformpolitik der Regierung Gyurcsany verspricht neue Exzesse politischen Hasses in Ungarn. Doch hinter der Kulisse der Alltagspolitik zeichnen sich Konturen einer Normalisierung ab. Die Bürger sind der unergiebigen Konfrontation überdrüssig. Sie wünschen sich mehr Dialog – und neue politische Akteure.
Seit Jahren ist die ungarische Gesellschaft gespalten wie kaum eine zweite in Europa. Die beiden dominierenden Parteien, die regierenden Sozialisten und die oppositionellen Jungdemokraten (Fidesz), führen ihre öffentlichen Auseinandersetzungen in der Form verbaler Hassexzesse, die manchmal selbst die Ukrainer, die ja auch nicht gerade zimperlich miteinander umgehen, zum Staunen bringen. Die öffentliche Debatte ist bestimmt von einem grotesken, lähmenden Dualismus, der aus jedem Kritiker der einen Seite sofort und zwingend einen Agenten der Gegenseite macht – selbst dann, wenn er die Gegenseite genauso heftig kritisiert. Was nicht ins Bild passt, wird verdrängt. Das Resultat ist eine bedauerliche Trivialisierung. Nuancen werden beiseitegewischt, originelle Lösungswege übersehen.
Vor weiteren Demonstration Zumindest was die unmittelbare Zukunft angeht, deutet wenig auf eine Entspannung hin. Am 9. März können die Ungarn in einem Referendum zu drei Sozialreformen der Regierung von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany Stellung beziehen, und wie immer in ihrer postkommunistischen Geschichte stehen die Magyaren vor einer Schicksalsstunde. Der Oppositionsführer Viktor Orban, der Initiator des Referendums, hat bereits klar gemacht, dass er im Falle eines Sieges – einer Zurückweisung der Studien-, Arztbesuchs- und Spitalgebühren, die Gyurcsany einführen will – den Regierungschef zum Rücktritt auffordern werde. Neu ist das nicht. Seit Bekanntwerden der «Öszöder Rede» Gyurcsanys 2006, auch «Lügenrede» genannt, bezeichnet Orban den Ministerpräsidenten als «illegitim». Gewinnt er das Referendum, käme dies in seinen Augen einer Bestätigung seiner Politik gleich, und sollten mehr als 25 Prozent der Stimmberechtigten für eine Annahme der Begehren des Fidesz stimmen, werden am 15. März, dem Nationalfeiertag, mit Sicherheit Zehntausende von Regierungsgegnern den Rücktritt Gyurcsanys fordern.
Trotz alledem lassen etliche Indizien darauf schliessen, dass Ungarn etwas geruhsameren Zeiten entgegengeht. Höhepunkt der Konfrontation war zweifellos das Wahljahr 2002, als nach dem Sieg der Exkommunisten in der unsinnigen Erregung des Ideologiestreits so manche Jungdemokraten allen Ernstes dachten, ihr Leben sei verpfuscht und das Land verloren. Solch weltfremde Hoffnungslosigkeit findet man heute kaum noch, wie der unabhängige Politologe und Publizist Laszlo Lengyel im Gespräch unterstreicht – trotz der desaströsen Leistung der Mannschaft Gyurcsanys, die Ungarn im Vergleich zu seinen Nachbarn wirtschaftlich stark zurückfallen liess, trotz dem neuerlichen Wahlerfolg der Sozialisten und trotz der «Lügenrede». Im Herbst 2006, anlässlich der Feiern zum Ungarnaufstand, flammte die Erregung noch einmal kräftig hoch, und in der Hitze des Augenblicks, beflügelt auch von der durchaus berechtigten Wut über das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte, liess sich Orban zu jenem unbedachten Ultimatum hinreissen, in dem er Gyurcsany drei Tage Zeit zum Rücktritt gab.
Unglaubwürdiger Gyurcsany
Da Orban natürlich nichts zu geben hatte, blieb Gyurcsany im Amt und macht sich seither, beflügelt durch innigen Zuspruch Brüssels, an die Verwirklichung von fiskalischen Reformen, die zwar nötig sind, die Bürger aber enorm erbittern und dem Fidesz zu einem einmaligen Höhenflug verholfen haben. Die Popularität Gyurcsanys ist abgesackt, die seiner Sozialisten mit ihm. Nicht, dass Grund zum Mitleid mit dem Ministerpräsidenten bestünde. Die Sozialisten, Gyurcsany sagte es in der «Öszöder Rede» vor seinen Parteigenossen selber, brockten sich ihre Defizite selber ein: durch eine gewissenlose, einzig auf den neuerlichen Wahlsieg ausgerichtete Verschleuderung.
So sachlich richtig die Kehrtwende hin zur Austerität sein mag – Gyurcsany ist gewiss nicht der Mann, dem man sie abnimmt. Zum einen, weil er den neuen Kurs mit der alten Garde fährt. Nicht nur er selber, auch sein Finanz-, sein Wirtschaftsminister und der Nationalbankchef blieben nach dem Wahlsieg 2006 im Amt. Wie aber sollen Politiker, die einst mit verlogenen Sprüchen eine Verschwendung ohnegleichen – sie verschaffte Ungarn die zweifelhafte Ehre des grössten Budgetdefizits in der EU – legitimierten, den Bürgern die Tugenden des Sparens nahebringen?
Zum Zweiten hat sich Gyurcsany nicht gerade als Kommunikationsgenie erwiesen. Er fordert zwar Reformen, aber er erklärt sie nicht. Gewerkschaften und Berufsverbände beklagen sich zunehmend über die autokratischen Gesten des Regierungschefs, und sehnsüchtig schielt man nach Frankreich, wo sich der «Ungar» Sarkozy mit Reformgegnern jeglicher Couleur an den Tisch setzt. Wie einst Joseph II., «zentralisiert, arrogant und von oben herab», drücke Gyurcsany den neuen Kurs durch, sagt Lengyel. Bei Menschen, die sich mit einigem Recht als Betrogene empfinden, kommen solche Methoden natürlich nicht gut an.
Der Fidesz mit neuem Mass
Gute Zeiten für die Opposition, sollte man meinen. Und tatsächlich fliegen dem Fidesz derzeit die Sympathien nur so zu. Die Jungdemokraten sammeln Stimmen links und rechts: bei den national und patriotisch Gesinnten ebenso wie bei den Anhängern des Kadar-Systems, einer breiten Schicht von eher Armen und Alten, die an eine viel gebende und wenig fordernde Regierung gewöhnt und mit Appellen an Initiative und Selbstverantwortung nicht zu ködern sind. Und Orban fährt heute einen dezidiert ruhigeren Kurs als noch 2006.
Zwar ist er ein scharfer Kritiker Gyurcsanys geblieben, und seine seit Monaten laufende Show der Entrüstung – die Fidesz-Fraktion verlässt bei angekündigten Reden des «illegitimen» Regierungschefs noch immer geschlossen den Saal – ist ein politischer Fehlgriff ersten Ranges, einzigartig in Europa und durchaus dazu angetan, das Demokratieverständnis zu untergraben. Das Fidesz-Mitglied Zoltan Nogradi, Bürgermeister der südungarischen Stadt Morahalom, verteidigt die seltsame Praxis mit dem Hinweis, die Jungdemokraten achteten ja das Parlament und selbst die Regierung; Gyurcsany sei nur «politisch», nicht aber «funktional» illegitim. Klingt bestechend. Nur: Wie soll ein derartiger Unterschied gewalttätigen Rechtsradikalen erklärt werden, die sich durch die Parolen des Fidesz im Glauben bestärkt sehen, ihr Wüten sei legitim?
Immerhin distanzieren sich die Jungdemokraten heute deutlicher von den Chaoten der rechten Szene als 2006. Im neuen «Programm für ein starkes Ungarn», für das man die deutsche CDU konsultiert hat und das die Handschrift des gemässigten Fidesz-Fraktionsführers Tibor Navracsics trägt, fehlen die übelsten Populismen des letzten Wahlkampfs. Von dieser etwas vernünftigeren Basis aus lässt sich Gyurcsany auch wieder besser kritisieren. Solange der Fidesz selber eine verantwortungslose Ausgabenpolitik propagierte, ging das schlecht. So ist etwa die ominöse 14. Monatsrente, mit der Orban 2006 zum Entsetzen internationaler Finanzexperten die Bürger ködern wollte, stillschweigend fallengelassen worden. Der Fidesz scheint verstanden zu haben, dass die Zeit der ideellen Orientierungslosigkeit vorbei und Ungarn definitiv in Europa angekommen ist. 2002 herrschte noch grosse Unsicherheit. Man stand an der Schwelle zur EU, und viele hielten die Frage, ob das Land einen nationalen oder europäischen Kurs einschlagen würde, noch lange nicht für entschieden.
Kurskorrektur erforderlich
Vor allem um die Auslandungarn machte man sich grosse Sorgen, wie der Versuch des Weltbundes der Ungarn zeigte, ihnen 2004 per Referendum die doppelte Staatsbürgerschaft zu verleihen. Die Abstimmung scheiterte an mangelnder Beteiligung, und im Fidesz, der das Projekt unterstützt hatte, suchte man nach alternativen Themen. Man fand sie in einem nie klar ausformulierten, für die Bürger aber deutlich spürbaren Antiliberalismus, der bis heute virulent geblieben ist. Noch 1998, als sie die Macht übernahmen, waren die einst erzliberalen Jungdemokraten eine ziemlich bürgerliche Partei, in der Querschüsse gegen das Kapital selten zu hören waren. Bis zur Wahl 2006 pflegte Orban dann aber einen kruden, emotionalen Antikapitalismus, umwarb in populistischer Manier die «Kadar-Generation» und liess die Menschen – massive Plakataktionen sorgten dafür – wissen, es gehe ihnen schlechter als früher.
Im traurigen Sakko erschien Orban zum denkwürdigen Fernsehduell mit Gyurcsany, und traurig und seltsam kraftlos liess er sich vom schlagfertigen, den Siegertyp verkörpernden Ministerpräsidenten abservieren – eine Erfahrung, die eine weitere Kurskorrektur erforderlich machte. Heute gibt sich Orban, geben sich seine Jungdemokraten wieder optimistischer und versuchen auch andere Schichten anzusprechen als die Verlierer der Wende. «Es gibt Hoffnung» ist das Motto der jüngsten Reden Orbans. Ungarn habe eine Zukunft, verheisst auch das neue Programm.
Ineinander verklammerte Gegner
Doch haben auch die beiden dominierenden Protagonisten der ungarischen Politik eine Zukunft? Man darf es bezweifeln. Fast 40 Prozent der Bürger sehnen sich laut einer Erhebung des unabhängigen Budapester Tarki-Instituts nach einer neuen Partei und neuen Gesichtern. Die Bürger sind das ewige Gezänk leid, sie wollen «europäischere» Formen der Konsensfindung: mehr Dialog, mehr Differenziertheit, weniger Hass. Am gefährdetsten ist derzeit zweifellos Gyurcsany. Er hat praktisch alles Vertrauenspotenzial verspielt und ist unbeliebt bis verhasst: im Volk, in der Partei, auch im Präsidium, wo er keinen Freund hat, und in der Fraktion, die er regelmässig abkanzelt wie eine Bande dummer Lümmel. Das Einzige, was ihn noch im Amt hält, ist das Fehlen einer überzeugenden Alternative.
So mancher Brutus stehe mit gezücktem Dolch bereit, um der Ära Gyurcsany ein Ende zu setzen, sagt Lengyel. Doch noch sticht keiner zu. Man will den Ausgang des Referendums abwarten, will sehen, wie nachhaltig der Erfolg Orbans ausfällt. Die Taktik der Sozialisten in dieser Phase ist so einfach wie einleuchtend. Die Bürger werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben, und Gyurcsany, die Schattengestalt, ist unsichtbar geworden. Ob damit das Schlimmste verhindert werden kann, bleibt abzuwarten.
Versagen diese Massnahmen und setzt sich bei den Sozialisten die Einsicht durch, dass man mit Gyurcsany an der Spitze die Wahlen im Jahre 2010 verliert – oder, horribile dictu, dem Fidesz sogar eine Zweidrittelmehrheit beschert –, wird der Regierungschef sein Amt sehr rasch verlieren. Dennoch hat Gyurcsany noch Manövrierraum. Er kann Minister austauschen, Kritiker in die Regierung holen oder die Parteiführung abgeben. Doch auch Orban hat seine Probleme. Zwar hat er seine Partei weit besser im Griff als Gyurcsany die seine, und mit seinen 45 Jahren ist er noch jung. Doch in einem gewissen Sinne ist er auch ein alter Politiker: seit je in der Szene präsent, mit allen Wassern gewaschen und alles andere als eine glaubwürdige moralische Alternative zu Gyurcsany. Viele Ungarn, auch solche, die den Fidesz unterstützen, sind seiner überdrüssig.
Orban ist, und zwar nicht erst mit seinem Referendum, zum eigentlichen Antireformer geworden. Sein strategisches Ziel ist es, die Exkommunisten in die Bedeutungslosigkeit zu treiben, so, wie in Polen die Solidarnosc-Parteien die Demokratische Linksallianz überrollten. Doch in einem gewissen Sinne ist Orban das Gegenteil der Kaczynskis. Deren Partei Recht und Gerechtigkeit boxte eine stattliche Reihe marktwirtschaftlicher Reformen durch und war in sozialen Fragen äusserst konservativ. Orban dagegen vertritt einen Interventionismus, den Liberale und Investoren verabscheuen. Probleme wie Schwangerschaftsabbruch, Homosexuellen-Ehen oder Sterbehilfe interessieren ihn nicht wirklich.
Schlägt die Stunde der Kleinen?
Es gibt innerparteiliche Opposition gegen die Politik Orbans, sowohl von Wertkonservativen als auch von liberaleren Geistern; es gibt, wie der Politologe Agoston Samuel Mraz im Gespräch unterstreicht, «mehr als nur einen Fidesz». Eng könnte es für Orban paradoxerweise dann werden, wenn Gyurcsany stürzen sollte. Frohe Botschaften brauchen neue Gesichter; fehlt der Erzfeind, wird auch dessen Nemesis entbehrlich. Und sollten die Grundpfeiler ungarischer Politik tatsächlich ins Wanken geraten, könnte endlich auch die Stunde der Kleinen schlagen.
Das oppositionelle, antisozialistische Demokratische Forum von Ibolya David etwa wendet sich seit Jahren energisch gegen den billigen Populismus beider grossen Parteien. Vor den letzten Wahlen bereits totgesagt, wird das Forum heute von rund 10 Prozent der Wähler unterstützt. Die Dinge sind in Bewegung geraten. Die politische Landschaft Ungarns könnte sich schon bald verändern.