Heute Island und morgen die halbe Welt: Die Angst vor dem StaatsbankrottVon Martin Dowideit In New York 2. November 2008, 01:42 Uhr Erst traf es die Hausbesitzer, dann die Banken - und nun ganze Staaten. Die Finanzkrise droht selbst wachstumsstarke, reformfreudige Schwellenländer in den Abgrund zu reißen
Dominique Strauss-Kahn hat seit dieser Woche ein neues Feuerwehrauto. Es kann schneller ausrücken als alles, was der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) bisher im Fuhrpark hat. Und es soll perfekt geeignet sein, um Brandherde in aller Welt zu löschen. Aber wie es sich für ein Vehikel der globalen Finanzfeuerwehr gehört, hat es weder vier Räder noch sprüht es Wasser. Stattdessen fällt es durch einen umständlichen Namen auf: "Kurzfristige Liquiditätsfazilität".
Dahinter verbirgt sich ein Kreditprogramm, das mit Hochdruck Milliardensummen in klaffende Finanzlöcher von Staaten pumpt - und zwar schneller und unkomplizierter, als es der Fonds bisher konnte. Island, die Ukraine und Ungarn haben nur nach wochenlangen Verhandlungen und mit strengen Auflagen Geld von der Institution in Washington erhalten. Doch jetzt kann Strauss-Kahn Ländern rasch zur Hilfe eilen, ohne, wie bisher vorgeschrieben, weitreichende politische Gegenleistungen einfordern zu müssen. Einzige Voraussetzung der Kreditvergabe: eine bisher solide Wirtschaftspolitik. So viele Staaten könnten Interesse zeigen, dass sich der IWF-Chef bereits sorgt, ob die zunächst vorgesehenen 100 Milliarden Dollar ausreichen werden.
Welche Länder an das schnelle Geld vom IWF wollen, ist noch unklar. Eindeutig ist jedoch, dass sich die Finanzkrise wie ein Lauffeuer ausbreitet und in rasantem Tempo gleich mehrere Wachstumsstaaten unterschiedlicher Kategorie in Schwierigkeiten geraten. "Die Krise ist schwerer und weiter verbreitet als vergangene Krisen aufgrund der globalen Verflechtungen", sagt Kristin Lindow, die für die Ratingagentur Moody's die Kreditwürdigkeit von europäischen und afrikanischen Ländern bewertet.
Besonders betroffen sind erstens Länder, die in den vergangenen Jahren deutlich mehr importiert als exportiert haben - etwa die baltischen Staaten. Die entsprechenden Leistungsbilanzdefizite müssen durch Geld aus dem Ausland finanziert werden. Nur: An die nötigen Devisen zu kommen ist extrem schwierig geworden.
Zweitens geraten auch Nationen unter Druck, deren Banken eng mit dem internationalen Finanzsystem verwoben sind und sich in Fremdwährungen verschuldet haben, wie etwa in Kuwait. Selbst der angehäufte Ölreichtum wirkt hier nicht als Schutz. Drittens schließlich leiden auch Nationen, deren Industrie- und Handelsunternehmen sich massiv verspekuliert haben, als sie etwa Überschüsse in Wetten auf die Stabilität der heimischen Währung investiert haben wie in Brasilien oder Mexiko geschehen.
"Auslöser für die ganze Misere war die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers", sagt Philip Suttle, Chefvolkswirt beim internationalen Bankenverband IIF in Washington. Seitdem leihen sich Banken untereinander kaum noch Geld und ziehen notgedrungen Mittel aus vielen Regionen ab. Gleichzeitig sind Währungen wie der Yen in die Höhe geschnellt - mit Fernwirkungen in aller Welt. So war es in Ungarn beliebt, Hypothekenkredite in fremden Währungen wie dem Yen aufzunehmen. Seit der Forint gegenüber diesen Währungen an Wert verloren hat, sind die Ratenzahlungen für viele Ungarn in die Höhe geschnellt und Banken ins Wanken geraten.
Die Sorge um die Stabilität von Finanzsystemen in Ländern mit jungen Marktwirtschaften hat in diesem Umfeld rasch zugenommen und etwa in der Ukraine eine Kapitalflucht ausgelöst. "Vergessen Sie, was Sie bis vor vier Wochen über Osteuropa zu wissen glaubten", sagt Suttle. Selbst Vorzeige-Reformnationen stünden Rezessionen bevor. Denn der Boom war in vielen Fällen auf Pump finanziert.
Der Krise standhalten können aus eigener Kraft am ehesten Länder mit hohen Währungsreserven wie etwa Brasilien. Dessen Zentralbank hat seit Mitte September über 30 Milliarden Dollar in die Stabilisierung des Reals gesteckt. Dennoch hat die Währung ein Sechstel ihres Werts gegenüber dem Euro verloren. Der Verfall hat Unternehmen hart getroffen, die durch hohe Einnahmen aus Rohstoffexporten Rekordgewinne eingefahren hatten und diese zum Teil in Währungsgeschäfte anlegten. Der Gesamtschaden kann sich auf bis zu 50 Milliarden Dollar belaufen, schätzen Experten.
"Jahrelang stabile Währungsaufwertung und niedrige Schwankungen hatte Firmen in falscher Sicherheit gewogen", so Marcello Carvalho, Brasilien-Experte der Großbank Morgan Stanley. Zugleich kommen Unternehmen, die sich in Fremdwährung verschuldet haben, kaum noch an neue Kredite.
Derweil haben die Märkte etwa Argentinien schon abgeschrieben. "Die Chance für einen Staatsbankrott innerhalb der nächsten zwei Jahre liegt bei 90 Prozent", so ein Lateinamerika-Kenner der Großbank Citigroup. Auf bedingungslose Hilfe vom Internationalen Währungsfonds kann das Land jedoch nicht hoffen. Dominique Strauss-Kahn hat bereits gesagt, dass das populistisch regierte Land nicht als Kandidat für das neue Kreditprogramm des IWF infrage kommt.
Und selbst dort, wo die Mittel des Währungsfonds durchaus helfen könnten, kurzfristige Liquiditätsengpässe zu überbrücken, wird es wohl noch Jahre dauern, bis sich die Kreditflüsse wieder normalisierten, sagt Expertin Lindow: "Das Geld wird aber nicht in gleichen Strömen fließen wie in der jüngeren Vergangenheit, und die Zinsen sollten auf absehbare Zeit besser die Qualität der Kredite berücksichtigten."
Dies sind harte Zeiten, auch für Wachstumsländer
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