Eisenbahner in Ungarn streiken
Protest gegen geplante Stilllegung von Nebenstrecken. Vertreter anderer Berufsgruppen gehen gegen die Teilprivatisierung der Krankenkassen auf die Straße
WIEN taz Es war der größte Streik in Ungarn seit sieben Jahren, der den Zugverkehr gestern Vormittag für sechs Stunden lahmlegte. Die Eisenbahner protestierten gegen die geplante Schließung von 38 unrentablen Nebenlinien der Staatsbahnen MAV. Ihnen schlossen sich Lehrerinnen und Lehrer, der Ärzteverband, Energieversorger und sogar Teile der Polizei an. Das Flugplatzpersonal hatte zwischen Mitternacht und vier Uhr früh den Ausstand geprobt, die Angestellten der Budapester Verkehrsbetriebe hatten schon am Dienstag mit einem zweistündigen Warnstreik ein Signal gesetzt.
Die Partikularinteressen der um ihre Arbeitsplätze besorgten Eisenbahner trafen auf breites Verständnis, weil fast alle in Ungarn von den liberalen Reformen und Sparmaßnahmen betroffen sind. Die Rentnerinnen und Rentner müssen mit Einbußen von zehn Prozent rechnen und die höchst umstrittene Teilprivatisierung der Krankenkassen, die Premier Ferenc Gyurcsány vor kurzem noch ausgeschlossen hatte, lässt viele um die Gesundheitsversorgung bangen.
Krankenhausärzte kümmerten sich mehrere Stunden lang nur um Akutpatienten und in den Schulen wurde für zwei Stunden pausiert. Obwohl etwa 1.300 Zugverbindungen ausfielen, blieb ein Transportchaos aus. Auf dem Budapester Westbahnhof warteten nur wenige vergebens auf ihren Zug.
Denn der Streik war tagelang angekündigt worden. Die Auswirkungen des Ausstandes blieben also gering und es ist nicht zu erwarten, dass der sozialdemokratische Regierungschef in die Knie geht. Er sieht in den Protesten vielmehr eine Inszenierung der Rechtsopposition, die schon seit mehr als einem Jahr gegen die sozialliberale Koalition mobil macht.
Tatsächlich wurde der Ausstand zwar von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen initiiert, doch schlossen sich dem Streikaufruf neben den Kommunisten auch die Rechtsparteien an, allen voran der populistische Ungarische Bürgerverband (Fidesz) unter Viktor Orbán. Auch die rechtsextreme Jobbik, die seit Monaten bewaffnete Milizen aufstellt, ist dabei.
Die Anfang des Monats ins Parlament eingebrachte Krankenkassenreform ist keine radikale Privatisierung, sondern ein Abgehen von den Einheitskassen. Der zentrale Krankenversicherungsfonds wird durch regionale Versicherungsgesellschaften ergänzt. Diese sollen sich für private Investoren öffnen.
Gegner der Reform fürchten, dass die Ärmsten den Versicherungsschutz verlieren werden. Gyurcsány musste sich Transparente mit einem Zitat vorhalten lassen, in dem er selbst vor der Privatisierung der Kassen gewarnt hatte: "Wir haben das in den USA und der Schweiz gesehen, und es ist nicht gut." Gyurcsány und sein Team befinden sich in einem Popularitätstief, das die Opposition für sich nutzen will. In jüngsten Umfragen begrüßten nur 14 bis 15 Prozent der Befragten den Kurs der Regierung. Für eine Massenkundgebung vor dem Parlament in Budapest wurden Mittwochabend 50.000 Menschen erwartet. RALF LEONHARD